Mit Henning Sußebach
Henning Sußebach: Felix, ich glaube, ich habe Schiss.
Felix Dachsel: Hätte ich auch an deiner Stelle.
Sußebach: Gestern stand ich zu Hause vor dem Kleiderschrank und habe überlegt: Mein rotes Lieblingsshirt? Nein, Rot macht ihn aggressiv. Grün ist besser, Grün beruhigt.
Dachsel: Ich will dich nicht zu Matsch hauen. Das wäre ein echter Verlust für dieZEIT. Auf der anderen Seite – dann wäre eine Stelle frei.
Ring frei!
Eine düstere Turnhalle in Hamburg-St. Pauli. In der Mitte ein Boxring, fünf mal fünf Meter, darin zwei Männer, die sich in diesem Moment nicht mehr ganz sicher sind, ob sinnvoll ist, was sie gerade tun. Wir sind Redakteure der ZEIT, Büronachbarn auf derselben Etage. Eigentlich mögen wir uns: Dachsel, 2,04 Meter groß. Sußebach, 1,68 Meter klein. Begegnen wir uns auf dem Flur, nicken wir uns komplizenhaft zu. Na, Großer, wie läuft’s? – Alles gut, kleiner Mann. Es sieht lustig aus, wenn wir nebeneinanderstehen, das wissen wir. Wir weichen beide von der Norm ab (der deutsche Durchschnittsmann misst 1,81 Meter). Manchmal diskutieren wir, ob uns das geprägt hat. Ist Sußebach als kleiner Mann besonders ehrgeizig? Und Dachsel als großer ein bisschen schwerfällig?
Ursprünglich wollten wir auch für dieses Dossier nur reden. Über die Frage nachdenken, welche Bedeutung die Körpergröße in unserer weitgehend körperlosen Welt noch hat. Wir müssen keine Tiere mehr jagen, duellieren uns nicht mehr, auf der Arbeit steht heute meist Idee gegen Idee, Argument gegen Argument. Aber stimmt das? Einen Abend wollten wir durch die Stadt ziehen, wo Dachsel Türen zu niedrig sind und Sußebach Theken zu hoch. Da es um Körperlichkeit geht, schlug Sußebach zum Auftakt ein Kräftemessen vor: Paintball-Schießen. Dachsel hätte eine gute Trefferfläche abgegeben. Dachsel konterte mit Boxen. Sußebach sagte zu. Bloß nicht kneifen.
So stehen wir im Ring, an einem Freitagabend kurz vor Christi Himmelfahrt, auch bekannt als Vatertag, Tag des Testosterons – der Tag, an dem Männer ganz besonders zur Blamage neigen.
Unser Kampf soll über drei Runden gehen. Im Alltag kämpfen wir beide eher selten. Außer: mit zu langen Hosen, zu kurzen Hemdsärmeln, zu hohen Küchenschränken, zu tief hängenden Deckenlampen und den immer gleichen Sprüchen. Heute ist das anders. Von Verbrüderung bis Krankenhaus ist alles vorstellbar, Letzteres wahrscheinlicher. Von einer Trainingsstunde abgesehen, haben wir nie geboxt.
In der blauen Ecke: Sußebach, 45 Jahre, 67 Kilo leicht, in der Boxwelt ein Weltergewicht. In der roten Ecke: Dachsel, 30 Jahre, 106 Kilo schwer, Superschwergewicht.
Dachsel sieht Sußebach in seiner Ecke und denkt: Das ist ein verdammter Beißer. Der kommt mit Fahrradhelm ins Büro. Wenn er so kämpft, wie er arbeitet, wird er immer wieder angreifen, Schrittchen für Schrittchen, Schlägchen für Schlägchen. Eine Kollegin nennt ihn »Henningchen«, das hat er mir mal erzählt. Von hier oben kann ich auf seine Glatze gucken. Aber wenn ich ihm einmal mit Wucht auf den Kopf haue, müsste er k. o. sein.
Sußebach sieht Dachsel und denkt: Lehnt der nicht etwas zu selbstsicher an den Seilen? Ich werde ihn beschäftigen müssen, viel laufen, tänzeln. Einen Schlag in seinen Bauch und sofort wieder weg. Der Trainer hat gesagt, ich muss die Deckung oben lassen, bis Dachsel müde wird. Wird nicht lange dauern. Dachsel fährt mit der Vespa zur Arbeit, der macht keinen Meter zu viel. Seine Freunde nennen ihn »Flegmon«, wie dieses gemütliche pinke Pokémon.
Dann gibt der Ringrichter den Kampf frei. Tonbänder laufen, Freunde filmen.
Ortswechsel, Zeitsprung. Ein Burger-Restaurant. Vor dem Kampf hatten wir eine Mail über den Verteiler der ZEIT geschickt: Wer wird gewinnen? Und warum? Das Sekretariat hat die Antworten anonymisiert, ausgedruckt, in einen Umschlag gesteckt. Den öffnet Sußebach jetzt wie bei einer Preisverleihung.
Sußebach: Gibt’s nicht.
Dachsel: Was?
Sußebach: Fünf haben auf Unentschieden getippt. 20 auf dich. Und 37 auf mich.
Dachsel: Mitleid. Der schlichte Wunsch, dass der Kleinere gewinnt.
Sußebach: Weil die guten Geschichten immer so ausgehen.
Dachsel: Lass mal die Begründungen sehen.
»Dachsel gewinnt. Größere Reichweite. Mehr Wumms.«
Dachsel: Genau das setzt mich unter Druck.
»Dachsel wird es aufgrund der körperlichen Überlegenheit ruhiger angehen lassen und wahrscheinlich mit dem Gefühl in den Kampf gehen, einen Kollegen verletzen zu können. Wie im Schulsport, als die Jungs beim Fußball auch nicht die Mädchen weggrätschten.«
Dachsel: Das wurde mir als Kind eingebläut: Halt dich zurück! Mich hat früher sogar mal die Mutter eines anderen Kindes vor einem Fußballspiel gebeten, gegen ihren Sohn nicht so hart in den Zweikampf zu gehen.
Sußebach: Beim Boxtraining hast du tatsächlich nach jedem Treffer gesagt: »Oh, ’tschuldigung. Hat’s wehgetan?«
»Kopf schlägt Masse. Ich tippe auf das Fliegengewicht!«
»Henning gewinnt. Er wird es als kleiner Mann unbedingt beweisen wollen.«
»Henning gewinnt, weil die kleineren Menschen ja immer etwas flinker und fieser sind.«
»Dachsel ist zu weich.«
Dachsel: Merkst du was? Dem Großen wird Trägheit unterstellt.
Sußebach: Mir sagt man Fiesheit nach.
»Natürlich Henning. Weil kleine Männer nicht verlieren können.«
Sußebach: Da wüsste ich besonders gern, wer das geschrieben hat.
»Der Bär Felix wird gewinnen, weil er jede Armlänge hat, um sich den Terrier Henning vom Leib zu halten.«
Sußebach: Diese Tiervergleiche beschäftigen mich. Bei anderen äußerlichen Merkmalen, die Menschen so haben können, dünn und dick, schwarz und weiß, weiblich und männlich, ist das längst verpönt, totales Tabu. Wir aber leben nach wie vor in freier Wildbahn, Felix.
Dachsel: Vor sechs Jahren war ich Praktikant bei der ZEIT. Da trat auf dem Flur ein älterer Kollege an mich heran – und fragte mich: »Wie ist das als so ’n Riesenmann mit ’ner Frau im Bett? Sie begraben die doch total.« Ich hatte vorher nie mit dem geredet.
Sußebach: Hast du was geantwortet?
Dachsel: Nein. Im Nachhinein denke ich, ich hätte zurückfragen sollen: »Und wie ist das für Sie als fetter Mann?«
Sußebach: Mich hat mal ein Kollege in sein Büro gebeten, dem der Ton einer Reportage nicht gefiel. Und was sagt der? Ich würde ihn an Truman Capote erinnern: toller Autor und charakterlich defizitär – beides, weil klein und komplexbeladen.
1. Runde
Sußebach nähert sich mit kurzen, federnden Schritten, Dachsel steht wie ein Baum in der Ringmitte, holt aus, sieht zugleich einen schwarzen Fausthandschuh kommen, beugt sich zurück … Luftloch. Dachsel spielt mit der Zunge am Mundschutz, schiebt ihn vor, zurück. Ist das Provokation? Überschätzt er sich? Plötzlich macht er einen großen Schritt auf Sußebach zu, ein Schlag in Richtung Kopf, abgewehrt. Dachsel lässt die Fäuste hängen, als wolle er sagen: Komm, probier’s doch! Sußebach feuert drei Schläge ab, irgendwo hinein in diesen großen Menschen. Dachsel ist kaum zu verfehlen. Atmet er schwer? Wird er schon müde? Gegenangriff. Dachsel fährt seine Rechte aus, voll auf die Nase. Da war er, der Wumms. Sußebach hat öfter getroffen, Dachsel härter. Wer die erste Runde gewonnen hat, weiß nur der Ringrichter.
Wieder draußen, nicht mehr im Restaurant, sondern in den Straßen der Stadt; jeder von uns mit ein paar Blättern Archivmaterial in der Hand: internationale Studien, Größentabellen. Wir laufen zu den Hamburger Deichtorhallen. Dort wird an diesem Abend eine Fotoausstellung eröffnet – ein typisches Ereignis, bei dem Dachsel anderen den Blick verstellt und Sußebach nichts sieht.
Sußebach: Wann ist dir eigentlich bewusst geworden, dass du überdurchschnittlich groß bist?
Dachsel: Als mir die Klamotten zu klein waren, die ich von meinen älteren Brüdern bekommen habe. Ich dachte: Meine Brüder vererben mir Hochwasserhosen? Da stimmt was nicht. Bis heute mache ich, wenn ich einen Pullover oder ein Hemd kaufe, in der Umkleide heimlich den Freiheitsstatuen-Test: das Teil anziehen, dann den Arm hoch und gucken, bis wohin der Ärmel rutscht.
Sußebach: Wenn du dich auf dem Flur etwas selbstvergessen reckst, kann man deinen Bauchnabel sehen.
Dachsel: Ich kann auch keine Skinny Jeans tragen.
Sußebach: Ich keine Mäntel. Darin sehe ich aus wie ein Zwerg.
Dachsel: Bist du ja auch.
Sußebach: Mir geben die Änderungsschneider immer zentimeterweise Ärmel-Abschnitte mit. Ich habe eine Sammlung zu Hause, wie Pulswärmer.
Dachsel: Gab’s bei dir als Kind den einen Schlüsselmoment?
Sußebach: In der Grundschule ging’s. Da hatte ich einen Kinderarzt, der mich ständig lobte: »Du bist aber stark! Du hast ja tolle Muskeln!« Heute glaube ich, der wollte mich rechtzeitig starkreden. Auf dem Gymnasium kippte das, plötzlich waren alle größer. In der Fünften hat mich der Vater des damals größten Mädchens meiner Klasse mal gefragt: »Na, gehst du auch schon zur Schule?«
Dachsel: Oh. Du hast richtig gelitten.
Sußebach: Weiß nicht. Da ist bis heute ein seltsamer Zwiespalt. Ich selbst mag meinen Körper nämlich. Mir kommt es so vor, als sei er in seiner Kompaktheit unanfälliger, weniger wartungsaufwendig. Als habe er ein späteres Verfallsdatum.
Dachsel: Ein späteres Verfallsdatum?
Sußebach: Ich sehe selten kleine Männer mit vernachlässigtem Körper. Ich kenne mehr große zugewucherte oder aus dem Leim gegangene Schluffis. Von außen kriegt man trotzdem früh signalisiert, ein kleiner Körper sei ein Makel. Oft ist das nett gemeint. Oder tröstend. Mir haben Lehrer Klassenarbeiten übergeben mit dem Beisatz: »Klein, aber oho.« Oder: Als Kind bin ich gesegelt. Und als ich mal bei einer Regatta als Erster durchs Ziel fuhr, rief der Wettfahrtleiter durchs Megafon: »Henning, du bist zwar klein, aber ein großer Segler!« Ich habe tagelang über den Zusammenhang nachgedacht. Das ist doch so, als würde man sagen: Sie haben zwar dichte Augenbrauen, spielen aber trotzdem gut Schach.
Dachsel: Ich habe nie einen Tanzkurs besucht, weil ich ahnte, dass ich komisch aussehen würde. Und in der Pubertät, als ich so schnell gewachsen bin, habe ich mir andauernd irgendwelche Knochen gebrochen. Beim Skateboarden, beim Snowboarden, beim Fahrradfahren.
Sußebach: Das klingt, als sei einem großen Menschen sein Körper fremder als einem kleinen.
Dachsel: Ich denke nie, ich bin zu groß. Vielleicht ist das die Selbstherrlichkeit der Großen, die ich da habe. Ich denke eher: Warum seid ihr alle so klein? Warum muss ich mich immer runterbeugen? Warum muss ich so schreien, damit ihr da unten mich hört? Warum baut ihr so enge Flugzeuge? Eure Cafés haben minikleine Stühlchen und minikleine Tischchen. Ich stoße mir in eurem Miniaturwunderland andauernd die Knie. Oder den Kopf. An irgendwelchen Türrahmen und Lampenschirmen. Am schlimmsten ist es in Portugal und Italien. Urlaub in Holland ist super. Da leben die größten Menschen der Welt, da passe ich in die Betten.
Sußebach: Ich passe in wirklich jedes Bett. In jedem Hotel, in jedem Flugzeug denke ich: Super, dass ich klein bin.
Dachsel: Irre ist: Mein Selbstbild ist das eines Fürsten, der aufrecht durch die Lande schreitet. Wenn ich dann Fotos sehe, denke ich: Dieser schiefe Hals! Dieser krumme Rücken! Schrecklich.
Sußebach: Ich kann, wenn ich mit meinen Kindern im Hallenbad bin, noch einen halbwegs spektakulären Sprung vom Einer zwirbeln, während größere Väter nur Arschbomben machen – denke aber unter Wasser: Bestimmt tuscheln oben alle, der Furz muss was kompensieren.
Dachsel: Gab es Phasen in deinem Leben, in denen du dir besonders winzig vorkamst?
Sußebach: Klar. Heute würde ich sagen: Es hängt von Umfeld und Lebenssituation ab, wie sehr einem kleinen Mann seine Maße bewusst werden. In der Pubertät, als es um die Aufmerksamkeit der Mädels ging: nicht so einfach.
Dachsel: Wenn wir damals im Rudel unterwegs waren, paar Jungs, paar Mädchen, musste ich überhaupt nichts machen. Ich musste nichts Kluges sagen, ich konnte einfach rumstehen – am Ende hat immer eine gesagt: »Bringst du mich nach Hause? Du bist mein Bodyguard.«
Sußebach: Als ich später nach Berlin gezogen bin, Prenzlauer Berg, als junger Familienvater unter jungen Familienvätern, in dieser rot-grünen Akademikerblase: Da war das Thema weg! Seit meine Familie und ich in einem Hamburger Vorort leben, ist es wieder da.
Dachsel: Inwiefern?
Sußebach: Das Selbstverständnis einiger Männer da scheint anders zu sein. Die sind maskuliner. So Baumarkt-Kerls. Es gibt einen Nachbarn, der hat mich schon mal auf dem Kopf getätschelt. Auch interessant: Wir gehören dort zu den wenigen Familien mit nur einem Auto. Und das fährt meistens meine Frau. Als ich mir für kurze Zeit ein eigenes gekauft habe, einen Alfa, schwarz und schlicht, nicht weiter auffällig zwischen all den Audis und BMWs, da sagte einer der Zwei-Auto-Männer sofort: »Ach ja, kleine Männer und ihre Autos …« Wenn ein Durchschnittsmann diesen Alfa führe, würde sich wahrscheinlich niemand fragen, warum – dabei hat der womöglich größere Traumata als wir beide, bloß unsichtbare. Eine verkorkste Kindheit vielleicht. Oder 25 Allergien und 37 Phobien. Ich glaube übrigens, was für dich Holland ist, wäre für mich Brooklyn: In meiner Vorstellung laufen da lauter kleine, vergeistigte, fast körperlose Brillenträger rum.
Dachsel: Woody Allen. 1,65 Meter.
Sußebach: Wann stört das Großsein besonders?
Dachsel: Wenn ich bei Leuten zu Besuch bin, Gast auf einer Party, dann tragen die mir Arbeiten auf, die sie selber nicht erledigt kriegen. Lampen anschrauben. Was vom Regal holen. Glühbirnen wechseln. Ich bin dann deren Greifarm. Fühlt sich sehr gegenständlich an. Mich nervt manchmal auch, dass man als Großer schwer Demut signalisieren kann. Ich versuche zum Beispiel, Chefs gegenüber defensiv zu sein. Ich will keinen Stress mit ihnen, spüre aber, dass ich allein durch meine Größe offensiv wirke. Wenn’s bei mir im Büro zu Diskussionen kommt, bleibe ich bewusst sitzen.
Lange bevor der Mensch anfing, sich selbst zu vermessen, und Elle, Fuß und Meter ersann, erzählte die Länge eines Körpers eine kurze Geschichte über die jeweilige Person. Denn wie groß ein Mensch wird, hängt neben den Genen von der Ernährung ab. Und weil es über Jahrhunderte die Reichen und Mächtigen waren, die immer satt wurden, waren sie oft größer als Handlanger und Tagelöhner. Heute ist Unterernährung zumindest in den Industrieländern selten geworden, die Bedeutung von Größe als Symbol des sozialen Status blieb aber unterschwellig erhalten. Zwar sind die Zeiten, in denen die Krankenschwester den Chefarzt heiratete, längst vorbei, tun sich heute meist Männer und Frauen mit gleichem Bildungsniveau und ähnlichem Einkommen zusammen – aber was die Körpergröße angeht, heiraten Männer nach wie vor gern »nach unten« und Frauen »nach oben«, egal, wie emanzipiert sie sind. In Partnerschaftsagenturen gelten Männer unter 1,80 als schwer vermittelbar, unter 1,75 als Karteileichen. Größe scheint nach wie vor ein Kriterium zu sein, oft im Unterbewusstsein, manchmal bewusst inszeniert: Früher stand fast jeder Königsthron in Schlössern und Burgen auf einer Empore. Und heute sitzt die deutsche Kanzlerin im Bundestag auf dem größten Sessel der Kabinettsbank.
Sußebach: Ich habe auch nie von Alexander dem Kleinen gehört. Oder von ganz kleinem Tennis.
Dachsel faltet einen Zettel auf, darauf ein paar Wörter:
Kleingeistig, kleinkariert, kleinlich, kleinherzig.
Großartig, großzügig, großmütig, großherzig.
Dachsel: Allerdings gibt’s auch Wörter wie großmäulig und großkotzig. Mir ist noch was anderes aufgefallen: Charakterliche Zuschreibungen sind mit der Vorsilbe klein fast immer negativ belegt. Aber wenn’s um etwas Materielles geht, ist groß böse. Die Großbäckerei!
Sußebach: Der kleine Portugiese nebenan.
Dachsel: Der Großkonzern! Für uns Deutsche der Inbegriff des Bösen. Sobald was Großes physisch messbar ist, gilt das Underdog-Prinzip.
Sußebach: Als Großboxer fand ich dich übrigens auch unsympathisch.
2. Runde
Im Ring scheinen die Hemmungen gefallen zu sein. Sußebach hat Dachsel einen Kinnhaken verpasst. Wie, wissen wir beide nicht. Der Kleine hat Zutrauen in die eigene Größe gefunden, greift an, taucht weg, weicht aus – so, wie der Trainer gesagt hat: »Die Maus muss die Katze müde machen. Das ist ihre einzige Chance.« Bauchtreffer, Brusttreffer, Schläfe – die aber nur gewischt, weil zu weit weg. Dachsel, der Große, steht und schnauft. Auf seinem T-Shirt wächst ein Schweißfleck. Flegmon gegen Henningchen.
Wieder nähert sich der Kleine, aber der Große schlägt zuerst, trifft den Brustkorb. Sußebach japst, fängt sich, das war knapp. Noch dreißig Sekunden. Jetzt wieder Sußebach, kurz, schnell. Dachsel geht in die Seile, federt zurück in den Ring. Nach Aktivität liegt der Große hinten.
Sußebach: Schau mal, Felix. Ich habe zwei Listen dabei. Hier ist die erste.
Truman Capote 1,60
Nikita Chruschtschow 1,60
Francisco Franco 1,63
Fabian Hambüchen 1,63
Charlie Chaplin 1,65
Josef Stalin 1,65
Joseph Goebbels 1,65
Silvio Berlusconi 1,65
Napoleon Bonaparte 1,68
Henning 1,68
Adolf Eichmann 1,68
Winston Churchill 1,69
Benito Mussolini 1,69
Wladimir Putin 1,70
Helmut Schmidt 1,72
Adolf Hitler 1,75
Dachsel: Eine ganze Menge Kriegsverbrecher, Völkermörder und Spaßvögel. Wobei ich gelesen habe: Napoleon war für seine Zeit eher groß.
Sußebach: Wie klein ist eigentlich Kim Jong Un?
Dachsel: Habe ich heute Morgen nachgeguckt! 1,70. Größer als du.
Sußebach: Und trotzdem das größere Arschloch.
Dachsel: Aber erfolgreicher. Und in welchen Bundesländern, glaubst du, leben die kleinsten Männer?
Sußebach: Im Saarland?
Dachsel: Ja. Und in Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg.
Sußebach: Die Länder mit den höchsten Sympathiewerten …
Dachsel: Und wo leben die größten Männer?
Sußebach: In Niedersachsen?
Dachsel: Hamburg.
Sußebach: Das liegt an dir. Hier noch eine Liste.
Bill Clinton 1,88
Boris Becker 1,90
Thomas Gottschalk 1,92
Clint Eastwood 1,93
Helmut Kohl 1,93
Harald Schmidt 1,94
Zlatan Ibrahimović 1,95
Sky du Mont 1,96
Ulrich Wickert 1,96
Michael Groß 2,01
Felix 2,04
Henning Scherf 2,04
Florian Henckel von Donnersmarck 2,05
Dirk Nowitzki 2,13
Sußebach: Eher Supersportler und Oscar-Gewinner. Ich frage mich allerdings, ob beim Zusammenstellen dieser Liste nicht auch wieder selektive Wahrnehmung eine Rolle spielt.
Dachsel: Kann ich mir nicht vorstellen.
Sußebach: Rate mal, wer größer ist: Barack Obama oder Donald Trump?
Dachsel: Das habe ich auch schon mal gegoogelt. Trump ist 1,88, Obama nur 1,85.
Sußebach: Dabei wirkt Trump kleiner! Weil er dicker ist und schlechte Anzüge trägt?
Dachsel: Weil er ein Knilch ist, ein Kleingeist.
Sußebach: Das ist ein Ding, oder? Auch ich als Kleiner bin von diesen Zuschreibungen nicht frei. Zum Beispiel war mir Arjen Robben lange unsympathisch: dieses Getrippel, dieses Grimassieren – so ein Rumpelstilzchen. Man würde nie denken, dass der 1,80 Meter groß ist.
Dachsel: Gibt es eigentlich Solidarität unter kleinen Männern?
Sußebach: Ich fürchte, nein. Wenn ich einen Mann sehe, der kleiner ist als ich, bemerke ich das sofort. Und denke: »Spitze! Da ist mal einer, der kleiner ist.« Es kommt auch kein Kleiner zu mir und spricht das Thema an.
Dachsel: Ich finde verrückt, dass Gerhard Schröder – 1,74 – bei Fernsehinterviews immer auf so ein Podest gestiegen ist.
Sußebach: Sogar der große Ronaldo stellt sich beim Mannschaftsfoto auf die Zehenspitzen.
Dachsel: Aber Schröder! Der war Kanzler, mächtig, berühmt, attraktiv. Der hätte auch auf dem Boden sitzen und reden können. Aber nein, er stellt sich auf ein Podest.
Sußebach: Gibt es unter Großen größere Solidarität?
Dachsel: Wenn sich zwei sehr Große treffen, freuen sich beide, dass sich keiner beim Reden runterbeugen muss. Ich war mal auf einer Veranstaltung in Bremen, der ehemalige Bürgermeister Henning Scherf auf dem Podium. Nachher kam der zu mir, ohne dass wir uns kannten. Wir haben uns Rücken an Rücken gestellt, um die Größe abzugleichen, und dann übers Schuhekaufen geredet. Wir hatten sofort eine Ebene.
Sußebach: Und ich habe noch ein paar Studien.
Nur sieben der bislang 45 US-Präsidenten waren kleiner als der Durchschnittsamerikaner zu ihrer Regierungszeit. Bei Wahlen gewinnt in der Regel der größere Kandidat.
Dachsel: Dann hättest du vor 1880 vielleicht eine Chance gehabt. Damals, das habe ich nachgeguckt, war ein durchschnittlicher Deutscher so groß, wie du jetzt bist.
90 Prozent der CEOs der 500 weltweit umsatzstärksten Unternehmen sind überdurchschnittlich groß.
Sußebach: Das fällt mir auf Recherchen auf. In der Wirtschaft begegnet man oft so 1,90-Meter-Typen. Schmal, volles Haar, alle wie aus demselben Labor.
Kleine Menschen arbeiten überdurchschnittlich häufig in sozialen Berufen.
Laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung sind große Männer in Sachen Geldanlage spekulationsfreudiger als kleine: Mit der Körpergröße steigen Investitionssumme und finanzieller Wagemut.
Bis zu einer Größe von 1,91 steigt bei Männern das Gehalt. Danach fällt es wieder.
Dachsel: Das erkläre ich mir damit, dass man als Riese in einer Gehaltsverhandlung vielleicht eher bedrängend wirkt.
Amerikanischen Forschern zufolge haben große Männer in ihrem Leben ein bis drei Sexualpartner mehr als kleine.
Eine Studie mit 350 US-Offizieren hat ergeben: Die Männer unter 1,73 wurden später Vater und waren überdurchschnittlich treu. Ihre Scheidungsrate lag um 37 Prozent unter jener der großen.
Kleine Männer frieren fünf Grad früher als große.
Sußebach: Stimmt! Ich bin immer der Erste, der beim Grillen die Jacke anzieht.
Kleine Männer haben ein geringeres Krebsrisiko.
Dachsel: Weniger Zellen.
Kleine Männer haben ein größeres Risiko für hohen Blutdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Sußebach: Rumpelstilzchen halt.
Kleine Männer leben länger als große.
Mittlerweile haben wir die Deichtorhallen erreicht. Im Foyer der Fotoausstellung eine Menge Menschen, Lächeln und Gemurmel, klirrende Gläser. Hier ist man gut gelaunt und hübsch.
Sußebach: Ich muss was gestehen, Felix. Ich mag es, wie ein kleiner Fisch durch Menschenmengen in Bewegung zu gleiten. Aber stehende Massen machen mich gelegentlich leicht depressiv. Weihnachtsfeiern, Ausstellungseröffnungen, Branchentreffen, so was in der Art.
Dachsel: Weil du nur Schultern siehst?
Sußebach: Ich hab dann das Haifischlächeln Hunderter Männer auf Augenhöhe. Kinne, Zähne, Münder. Da kann niemand was für, aber in dieser Ballung bedrängt mich das. Meine Frau geht ungern mit mir auf Konzerte. Weil ich da irgendwann am Rand stehe.
Dachsel: An selbstbewussten Tagen betrete ich solche Veranstaltungen wie ein Eroberer.
Sußebach: Vermutlich hättest du Amerika auch einen Tag früher gesehen als Kolumbus.
Dachsel: Ich hätte es gar nicht nötig gehabt, Amerika zu entdecken.
Sußebach: Bestimmt war Kolumbus nur 1,23.
Dachsel: Höchstens.
Sußebach: Jedenfalls Italiener.
3. Runde
Im Ring beginnt der letzte Abschnitt – und etwas ist passiert. Sußebach greift nicht mehr an, tänzelt nur noch, aber nicht frech, eher furchtsam. Dachsel hingegen: wuchtig und entschlossen. Sußebach liest aus Dachsels Augen: Einen hau ich dir rein! Dachsel sieht in Sußebachs Augen: Angst. Der Kleinere müsste die größere Kondition haben, hat er auch, Dachsel schnauft, Sußebach ist still, Dachsel scheint zu wachsen, Sußebach zu schrumpfen. Dann kommt der Schlag, Dachsels Faust trifft Sußebachs Schläfe, der wankt wie ein Junge, der sich auf dem Spielplatz-Karussell zu lange zu schnell gedreht hat. Ein taumelnder Schritt, noch einer. Ich hab ihn, denkt Dachsel. Dann der Gong. Vorbei.
Am Ende des Abends hat es uns in eine Kneipe verschlagen. In der Luft Zigarettenrauch und Jukebox-Gedudel. Dachsel ordert ein großes Bier, Sußebach ein kleines.
Dachsel: Was war am Ende los mit dir?
Sußebach: Zu viel gegrübelt. Ich habe kapiert, dass ich in einer artfremden Situation war. Eigentlich bin ich ja konditioniert auf: kurz die Klappe aufreißen, dann weglaufen.
Dachsel: Hast du dich nie geprügelt in deinem Leben?
Sußebach: Ich weiß nicht mehr, worum es ging, aber ich habe einmal in einem Handgemenge einem Klassenkameraden die Nase blutig geschlagen. Der saß mit vollgetropftem T-Shirt im Sekretariat, ich stand erschrocken daneben. Aber was war in den Gesichtern der Lehrer? Respekt!
Dachsel: Mich hätten sie getadelt.
Sußebach: Du hast mir gerade auch einen auf den Solarplexus gegeben! Wenn ich tief einatme, knallt mir ein Stich in den Brustkorb.
Dachsel: Wenn du mich k. o. gehauen hättest – das hätten sich die Kollegen noch in zwanzig Jahren auf der Weihnachtsfeier erzählt.
Sußebach: Du hast dich nicht zum ersten Mal geschlagen, sei ehrlich.
Dachsel: Ist schon ein paarmal vorgekommen.
Sußebach: Das passt zu einer letzten Studie, die mich überrascht hat: Große Männer werden öfter körperlich angegriffen als kleine.
Dachsel: Man könnte meinen, bei mir gilt das Prinzip Frieden durch Abschreckung. Aber meine Alltagserfahrung ist: Wenn ich am Bahnhof ganz brav an einer Rolltreppe anstehe, stoßen die Kleinen mich mit dem Ellbogen weg. Die entwickeln so eine aggressive Selbstbehauptung. Als hätte ich sie angegangen.
Sußebach: Mir geht es auf Bahnhöfen so: Wann auch immer ich in einer Warteschlange anstehe, quer zur Hauptlaufrichtung, quetschen sich die Passanten garantiert bei mir durch. Wortlos. Wo ich bin, ist der Weg des geringsten Widerstands.
Dachsel: Würdest du sagen, das ist Diskriminierung?
Sußebach: Nein, eher nicht. Manche Bemerkungen tun weh, klar. Und wir beide sind sicherlich auch deshalb so, wie wir sind, weil du groß bist und ich klein bin. So wie andere aus irgendwelchen anderen Gründen sind, wie sie sind. Meistens habe ich aber einfach das Gefühl, als kleiner oder großer Mann schaut man täglich einer irren Natur-Doku zu. Ich glaube, ein Normalo merkt kaum, wie archaisch es auf der Welt nach wie vor zugeht, in Büros, in Warteschlangen, auf Bahnsteigen. Das ist natürlich wieder eine Arroganz-Falle, diese Ethnologen-Perspektive. Du bist gerade mal 23 Zentimeter über Normalmaß und ich 13 drunter, aber ich denke, wir beide bewegen uns bewusster durch den öffentlichen Raum als Durchschnittskerle. Wir denken mehr darüber nach, warum etwas so ist, wie es ist. Und wie wir wirken. Meine Frau sagt: zu viel!
Dachsel: Wie groß ist deine Frau?
Sußebach: Ich weiß es nicht genau. 1,62?
Dachsel: Habt ihr euch über eine Klein anzeige kennengelernt?
Sußebach: Och nee. Jetzt kommen die Zwergenwitze.
Dachsel: Wie heißt ein kleiner Türsteher?
Sußebach: Na, sag schon.
Dachsel: Sicherheitshalber. Und: Wenn du was trinken gehst, Henning …?
Sußebach: Ja?
Dachsel: Setzt du dich dann an die Minibar?
Sußebach: Oh, Gott. Und ich habe nichts gefunden! Im ganzen Internet: kein einziger guter Riesenwitz.
Dachsel: Eine Diskriminierung gibt’s natürlich wirklich.
Sußebach: Welche?
Dachsel: Man müsste mal überlegen, ob größeren Menschen nicht mehr Hartz IV oder Bafög zusteht – allein weil sie mehr essen müssen.
Sußebach: Wenn du das Fass aufmachst, kommen aber die Kleinen und sagen: Wer bezahlt dann das Umnähen meiner Hosenbeine? Und warum sind kleine Fahrräder genauso teuer wie große?
Dachsel: Weil’s halt aufwendiger ist, ein Fahrrad im Miniaturformat zu basteln als ein normales.
Sußebach: Wie groß wärst du gern, wenn du die Wahl hättest?
Dachsel: 1,95. Ich wäre groß, käme aber problemlos durch die Türen durch. Und du?
Sußebach: 1,75. Es wäre weniger offensichtlich, dass ich klein bin, aber ich bliebe kompakt.
Dachsel: Da kann man medizinisch was machen. Ich habe neulich eine Reportage über einen Mann gelesen, der seine Beine um acht Zentimeter hat strecken lassen. Der war übrigens größer als du, 1,69 Meter. Schon vor der Operation.
Das Urteil
Nach dem Gong ist es ganz still in der Turnhalle auf St. Pauli. Kein Turnschuhsohlen-Quietschen, nur noch unser Keuchen. Ein bisschen benommen stehen wir beide im Ring, schauen uns an. Haben wir uns gerade wirklich geschlagen?
Wortlos tritt der Ringrichter zwischen uns und umgreift unsere Handgelenke.
Dachsel spürt: Der Ringrichter hebt meine Faust!
Sußebach spürt: Der Ringrichter hebt meine Faust!
Unentschieden.
Dachsel: Eine rein pädagogische Entscheidung, er wollte dir deine Würde lassen.
Sußebach: Du bist und bleibst ein Großkotz.
Dachsel: Und du willst immer das letzte Wort haben.