Falsche Bodenständigkeit

Neulich entnahm ich der Gala, die ich regelmäßig mit Vergnügen durchblättere, dass Heidi Klum sehr bodenständig ist. Und dass auch ihr neuer Freund, Tom Kaulitz, Gitarrist der Band Tokio Hotel, mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Der Bildwiederum entnahm ich, dass Heidi Klum bei einem Spaziergang durch Düsseldorf gesichtet wurde. An ihrer Seite waren Tom Kaulitz, ihre Mutter Erna und ihr Vater Günther, er trug ein senffarbenes Kurzarmhemd, seinen Pullover über der Schulter. Ich sah mir das Bild genauer an: Spaziergänger, wie sie halt zu Abertausenden durch deutsche Fußgängerzonen spazieren. Etwas störte mich.

War es Heidi Klum und ihr verliebtes, irrationales Grinsen? Waren es die Eltern, Günther und Erna, die exakt wie jene Typen aussahen, die einem auf Fuerteventura den Weg zum Buffet versperren? War es das unlässige Lässigsein von Tom Kaulitz aus Magdeburg? Man trank, diese Details bot mir der Bericht ebenfalls an, später noch in einem Brauhaus Altbier und aß dazu Bratwürstchen und Sauerkraut. Spätestens jetzt wurde mir klar, welches Problem hier vorlag.

Im Prinzip ist es doch so: Das Leben besteht für uns Normalmenschen, wenn ich diese Schublade mal aufmachen darf, zu einem großen Teil aus Flaschen wegbringen, an der Ampel warten, aus Formulare ausfüllen und nach einem aufwendigen Entscheidungsprozess eine neue Bildschirmarbeitsplatzbrille bestellen. Das sind Anti-Glamour-Wörter, die das normale Leben beschreiben: Bildschirmarbeitsplatzbrille. Oder man sammelt Müll ein, weil der Sack auf dem Weg nach draußen gerissen ist, und jetzt liegen Joghurtbecher und Orangenschalen und altes Kaffeepulver auf den Stufen. Das ist das Leben, das ganz normale.

Von einem Star erwarte ich, dass er sich von diesem Leben fernhält, ich erwarte Entrücktheit und Glamour. Ein Star muss eine Projektionsfläche sein für all jene Geschundenen, die von einem Leben träumen ohne Widrigkeiten wie Kühlschrank auswaschen oder Fenster putzen. Es ist eine Art von Arbeitsteilung: Stars führen stellvertretend das ausschweifende Leben, das sich die meisten anderen nicht leisten können.

Ich will nicht sehen, wie Heidi Klum durch Düsseldorf spaziert und eine Wurstplatte bestellt. Ich kann doch selbst durch Düsseldorf spazieren und eine Wurstplatte bestellen. Sie soll, verdammt noch mal, ein Star sein. Champagner, Privatjet, Monaco, Jacht, Paris, Ibiza, Jetski-Rennen, Verschwendung, Dekadenz.

Die Boulevardpresse glorifiziert regelmäßig, wenn ein Star »am Boden geblieben ist«, was ja schon ein seltsames Bild ist: ein Stern, der nicht schwebt. Da wird beispielsweise euphorisch erwähnt, dass sich der Schauspieler Keanu Reeves bei seiner eigenen Party in die Schlange gestellt und zwanzig Minuten im Regen auf Einlass gewartet habe. Was ich nicht bodenständig finde, sondern in erster Linie dämlich.

Die Schauspielerin Anne Hathaway wird für ihr Bekenntnis gefeiert, dass sie ihr Bett und den Abwasch noch selbst mache. Wo ich ihr einfach raten würde, eine Spülmaschine zu kaufen. Und Thomas Müller, der Fußballer, wird dafür gelobt, dass er seinen Urlaub nicht etwa in der Südsee, sondern in Bayern verbringt, mit seinen Hunden »Micky« und »Murmel«! Der Müller Thomas! Da sitzt er in Bayern rum, ganz bodenständig, auf seinem Jahreseinkommen von dreißig Millionen Euro.

Ich mag diesen Normalitätskitsch nicht. Ich interessiere mich zum Beispiel für die britischen Royals, weil ich ihre goldenen Kutschen mag und den Verdacht habe, dass sie keine Pfandflaschen wegbringen müssen. Ein Foto, auf dem Harry zu sehen wäre, wie er in einer blauen Ikea-Tasche Leergut zum Supermarkt trägt, würde mich sehr stören. Es würde mir die Hoffnung nehmen, dass es irgendwo ein Leben gibt ohne diesen ärgerlichen Akt, bei dem einem meistens altes Bier auf die Hose läuft.

Wir müssen die Steuererklärung machen und die Waschmaschine reparieren, ständig solche Sachen. Ein Stern aber muss fern sein, er muss leuchten, und er muss verglühen.

Das geheime Dahinter

Als die Menschen noch Windows benutzten, in grauer Vorzeit also, landeten sie regelmäßig im „abgesicherten Modus“. Im abgesicherten Modus standen weniger Funktionen zur Verfügung, alles war folglich einfacher und klarer. Meist wechselte das Betriebssystem in den abgesicherten Modus, wenn sonst nichts mehr ging.

Es scheint, als sei der abgesicherte Modus zurückgekehrt in die analoge Welt, in den politischen Diskurs einer verhedderten Welt. Köpfe fahren nicht mehr ordnungsgemäß hoch. Sie landen in einem Modus, der weniger grafisch ist und weniger komplex, im Modus der Verschwörungstheorie. Dieser Modus ist deshalb so attraktiv und verbreitet, weil er mehrere Vorgänge, die üblicherweise einzeln zu berechnen wären, zu einem zusammenfasst.

Die Verschwörungstheorie ist nicht mehr der Modus der Verrückten, die in der Fußgängerzone stehen und predigen, sie lässt sich nicht mehr an den Rand exotisieren. Sie ist mentaler Ausweg der Mitte, existiert im Kopf einflussreicher Publizisten, im Bundestag. Nicht nur bei der AfD. Christian Lindner begründet die Notwendigkeit eines Bamf-Untersuchungsausschusses mit dem Hinweis, man müsse Verschwörungstheoretikern die Grundlage entziehen. Womit er sich zwar vordergründig gegen Verschwörungstheorien stellt, sie aber gleichzeitig adelt. Offenbar hält Lindner die Theorie, hinter dem amtlichen Durchwinken von Flüchtlingen stehe ein politischer Großplan, für widerlegenswert.

Je komplexer der Weltabdruck in unserer Wahrnehmung, desto höher ist die Gefahr, dass der Kopf auf den abgesicherten Modus umschaltet. Wenn in Syrien ein Bürgerkrieg ausbricht, der von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr komplizierter wird, unter Beteiligung des Iran, Russlands, der USA, Terroristen, Islamisten, Salafisten, Kurden, wenn sich Hunderttausende auf die Flucht machen, manche religiös, manche nicht, der eine nett, der andere nicht, jeder mit eigener Biografie – wenn diese Menschen abgerissen über Felder marschieren und plötzlich vor uns stehen, als herausfordernde Tatsache, als Mosaik der Millionen Geschichten, dann ist es verlockend, dahinter einen Generalplan zu vermuten. Zum Beispiel das Vorhaben Angela Merkels, die deutsche Bevölkerung komplett auszutauschen. Soll doch erst mal jemand beweisen, dass es nicht so ist!

Im Abwärtsstrudel

Wie erleichternd, wenn aus dem Nichts plötzlich die sinistre Wahrheit auftaucht. Fans von Star Wars kennen das: diesen warmen Schauder, der einen überkommt, wenn sich Darth Vader endlich zu seiner Vaterschaft bekennt.

Diesen Schauder muss auch der Publizist Jakob Augstein spüren, wenn er bei allem Nachdenken über die globale Wirrnis zum Ergebnis kommt, die Welt leide an einer „Israelisierung“. Der israelische Ministerpräsident Netanjahu gehöre „auf traurige Weise“ zu den erfolgreichsten Politikern der Welt. Der Westen habe sich, so schrieb Augstein neulich auf Spiegel Online , auf einen „israelischen Weg“ begeben. Frankreich trage, nach israelischem Vorbild, inzwischen die Züge eines Polizeistaats. Statt den sichtbaren Grund zu nennen für mehr Sicherheitsvorkehrungen zwischen Paris und Nizza, nämlich islamistische Anschläge mit Hunderten Toten, insinuiert Augstein ein Dahinter, etwas metaphysisch Existierendes, eine geheimnisvolle Kraft. Von da ist es nicht mehr weit zum Klassiker der Verschwörungstheorie, zum jahrhundertealten Glauben an das „Weltjudentum“, dem man seit dem Mittelalter unterstellt, weltweit die Fäden in der Hand zu halten.

Dieser Glaube beseelte auch jene kahlköpfigen Männer, die letztes Jahr mit Fackeln durch Charlottesville in Virginia zogen. „Jews will not replace us“, brüllten sie. Was doch merkwürdig ist. Man dachte ja, Trump-Amerika fühle sich existenziell von Maschinen bedroht, vielleicht noch von deutschen Autos und Chinesen. Aber weshalb denn von Juden? Der metaphysische Verschwörungsglauben ist offenbar tröstend fürs eigene Versagen. Eine Erklärung, die auch dem türkischen Präsidenten gefällt. Im Abwärtsstrudel der Inflation brüllt Erdoğan seinem Volk entgegen, die „Zinslobby“ sei schuld an der Misere. Er glaubt da möglicherweise wirklich dran.

Das wäre alles zu verdrängen und wegzuschieben und irgendwie zu ignorieren, hätte die Verschwörungstheorie mit der AfD nicht eine Repräsentanz im Bundestag, der Glaube an Islamisierung, Bevölkerungsaustausch, EU-Diktatur, Neue Weltordnung, und schickte sich nicht gerade eine „linke Sammlungsbewegung“ an, ganz ähnliche Denkmuster zu vertreten. Peter Boehringer, AfD, mächtiger Vorsitzender des Haushaltsausschusses, glaubt an eine globale Elite, die im Hintergrund an der „Neuen Weltordnung“ arbeitet. Was keine Verschwörungstheorie ist, die er sich ausgedacht hat. Sie zirkuliert seit dreißig Jahren in den USA, auch unter globalisierungskritischen Linken.

Wie würde es wohl enden, wenn er sich auf ein Bier mit Oskar Lafontaine treffen würde? Was wäre der Konsens des Abends? Könnte man sich möglicherweise darauf einigen, dass es eine „unsichtbare Regierung gibt, die in Wirklichkeit die Geschicke dieser Welt bestimmt“? Exakt das hat Lafontaine im vergangenen Jahr auf einer Friedenskundgebung behauptet. Darauf müsste man sich also einigen können.

Seine Frau, Sahra Wagenknecht, legte vor knapp zwei Wochen in der ZEIT dar, warum Deutschland eine „linke Sammlungsbewegung“ brauche. Ihr Aufruf ist getragen von der Überzeugung, die Flüchtlingswelle sei ein neoliberaler, durch Moral abgesicherter Angriff auf den kleinen Mann. Der Flüchtling als Trojanisches Pferd der Globalisierung – kein Wunder, dass die Sammlungsbewegung um Attac wirbt. Das Problem ist dabei nicht, dass Wagenknecht konkurrierende Interessen am unteren Ende der Gesellschaft anspricht. Nein, das ist okay. Das Problem ist, dass Wagenknecht insinuiert, es gebe einen Profiteur der Flüchtlingskrise, den viel gescholtenen „Neoliberalismus“. Oder sogar einen Plan hinter der Krise.

Finstere Pläne

Während Wagenknecht mit ihrem roten Dolch noch im Trüben stochert, zielt man in Ungarn längst präziser. Der Regierungschef Viktor Orbán hat den Schuldigen für das große Chaos gefunden: George Soros, US-amerikanischer Milliardär mit ungarischen Wurzeln. Soros würde „vor der Öffentlichkeit verborgen“ mit enormen Geldern die illegale Einwanderung fördern. Orbán ließ in Ungarn Fotomontagen plakatieren, die Soros und ungarische Oppositionspolitiker zeigten, wie sie gemeinsam Grenzzäune zerschneiden. Es ist also nicht die verworrene Realität von Krieg und Flucht, die da einbricht. Nein, es ist ein jüdischer Milliardär mit finsteren Plänen.

Die Qual der Einzelvorgänge, der losen Enden, der sich überlagernden Bilder, die Last der Komplexität, des achtfachen Bodens, Aleppo, Fassbomben, Staub, Balkan, Zelte, Bahnhof Budapest, geht auf in einem heilsamen Glauben an eine höhere Kraft. Die Metaphysik der Verschwörungstheorie ist umgekehrte Religiosität. Aus dem Glauben an eine Kraft, die beschützt, wird der Glaube an eine Kraft, die bedroht. Auch das hat etwas Tröstendes. Auch das bekämpft, was Heidegger als das „Hineingehaltensein ins Nichts“ bezeichnete, jenes Gefühl der tiefen existenziellen Weltleere, in der die Dinge ohne jeden Sinn kreuz und quer schießen. Je greller, lauter, je quälender sich diese Weltleere offenbart, desto größer wird offenbar der parareligiöse Wunsch, eine höhere Macht sei für diesen Schlamassel verantwortlich.

Würde dieser Glaube Gottesdienst feiern, er würde ein berühmtes Kirchenlied umkehren und es mit düsterer Beschwingtheit ins Nichts schmettern – Boehringer, Augstein, Lafontaine, den Kriegen entgegen, den Flüchtlingen, dem elenden Durcheinander: „Von schlechten Mächten unsichtbar umgeben, erwarten wir getrost, was kommen mag. Böses ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Das Glück der Überwindung

Einer Meldung der Polizei Recklinghausen entnahm ich vor einigen Tagen eine Geschichte, die mich ins Nachdenken brachte über Trägheit und Gewöhnung. Und über die Anziehungskraft von Oer-Erkenschwick. Ich weiß nichts über Oer-Erkenschwick im Ruhrgebiet, aber es muss ein faszinierender Ort sein.

Um zwei Uhr nachts, so die Meldung, stoppten zwei Polizisten auf der Recklinghäuser Eulenstraße ein Auto, an dessen Steuer ein Neunjähriger saß. Der Junge saß auf einem Kindersitz, konnte gerade so über das Lenkrad schauen und war vollkommen unversehrt. Auch das Auto war unbeschädigt, nur ein eingeklappter Spiegel fiel den Polizisten auf. Der Neunjährige gab an, auf dem Rückweg von der Oer-Erkenschwicker Kirmes zu sein. Das Auto gehöre seinen Eltern, er habe es heimlich genommen. Ich rief bei der Polizei in Recklinghausen an – ob sich das wirklich alles so zugetragen habe? Ja: habe es. Und übrigens, kleine Aussprachehilfe, sage man »Ooor-Erkenschwick«. Das Dehnungs-e verlängert den vorhergehenden Vokal.

Ich googelte »wie groß ist ein Neunjähriger?«, ein mitteleuropäischer Neunjähriger ist im Schnitt 1,33 Meter. Ein Hydrant hingegen, das schaute ich zum Vergleich nach, kann bis zu 1,50 Meter groß sein. Neunjährige sind also nicht sehr groß. Wenn Neunjährige gegen eine handelsübliche Tür rennen, dann besteht die Gefahr, dass sie mit dem Schlüsselbein an die Türklinke stoßen. Die Türklinke befindet sich nach deutscher Norm auf einer Höhe von 85 Zentimetern. Und es ist ja nicht damit getan, dass es einem irgendwie gelingt, über das Lenkrad zu schauen. Man sollte das Auto auch steuern können. Um das zu lernen, braucht es mindestens zwölf Fahrstunden. Überlandfahrten, Nachtfahrten, Einparken, rückwärts, vorwärts, seitwärts. Manche können es danach immer noch nicht.

Ich stelle mir also vor, wie dieser sagenhafte Junge, der etwas sehr Gefährliches getan hat, für das ich ihn bewundere, in seinem Bett lag und von Oer-Erkenschwick träumte, vom kreisenden Karussell. Wie wohl sein inneres Pro und Contra ausgesehen haben mag? Dagegen spricht: Ich bin neun Jahre alt, habe keinen Führerschein, kann gerade so über das Lenkrad schauen, und meine Eltern werden sehr wütend sein. Dafür spricht: Ich wäre recht schnell in Oer-Erkenschwick.

Nach eingehender Prüfung und redlicher Abwägung aller Argumente hätte er sich selbstverständlich gegen das Vorhaben entscheiden müssen. Er hat es trotzdem gemacht. Ist einfach losgefahren. Keine Ahnung, wie er das hinbekommen hat. Ich will nach einem kurzen pädagogischen Einschub erklären, warum dieser Kerl ein Vorbild ist. Hier der Einschub: Wer nicht im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis ist, sollte unter keinen Umständen Auto fahren. Ohne jede Ausnahme. Niemals. Selbst dann, wenn er möglicherweise besser Auto fährt als ein alter, kurzsichtiger Mann mit Führerschein aus dem Jahr 1954.

Was dieser Junge uns dennoch lehren kann, ist die Erkenntnis, dass man nur durch Aufgaben wächst, die größer sind als man selbst. Keine Entwicklung ohne Überforderung. Ohne eine kleine Dosis Selbstüberschätzung kein Vorankommen (und wenn es nur bis Oer-Erkenschwick ist). Was einen alles aufhalten kann: die Vernunft, das Über-Ich, der Schweiß, latente Übelkeit. Hinter einem Berg aus Angst allerdings wartet das Glück der Überwindung.

Leonard Bernstein beispielsweise dirigierte, nachdem der Chefdirigent kurzfristig erkrankt war, die New Yorker Philharmoniker zum ersten Mal ausgerechnet nach einer durchsoffenen Nacht, völlig verkatert und unvorbereitet, ohne eine vorherige Generalprobe. Frühmorgens kam Bernstein vom Feiern, um neun klingelte das Telefon, um 15 Uhr stand er auf der Bühne.

Ich will nicht klingen wie ein Carsten Maschmeyer für Arme oder ein Erbauungskalender von Pater Anselm Grün, aber ich musste halt, als ich diese Meldung las vom Jungen, der unbedingt nach Oer-Erkenschwick wollte, an die tägliche Trägheit denken und die Gewöhnung, an diese verdammte Macht, von der man sich umgarnen lässt und die einen dauernd davon abhält, etwas zu tun, das aufregend und gut ist und ein bisschen zu groß. Man sollte es machen, denn Scheitern ist möglich, aber niemals ein Argument.

Extremer Frieden

Frieden ist ein Wort, mit dem man sich problemlos auf die sichere Seite formulieren kann. »Ich bin für Frieden«, diesem Satz wird erst mal niemand widersprechen wollen. Das ist ungefähr so unangreifbar wie: »Ich bin gegen Tierquälerei«, »Ich bin für Menschenrechte« oder »Kinderarbeit ist nicht gut«.

Frieden bedeutet, so sagt es das Lexikon, die Abwesenheit von Krieg. Das ist natürlich höchst erstrebenswert. Wenn sich also Menschen am Brandenburger Tor versammeln, wie neulich geschehen, und für Frieden demonstrieren und gegen Krieg, dann klingt das erst mal gut. Doch nur bis man genauer hinhört.

Dann nämlich fragt man sich, was Sahra Wagenknecht genau meint, wenn sie im siebten Jahr des Syrienkrieges, im April 2018, bei einer Demonstration am Brandenburger Tor von Frieden spricht. »Nein zum Krieg« hieß diese Kundgebung. Eine spontane Veranstaltung der Linkspartei, in Windeseile organisiert. Als Protest gegen die amerikanischen Luftangriffe gegen Assad. Und da rief Wagenknecht ins Publikum: »Besser wäre es, wir gingen einen anderen Weg. Einen Weg des Friedens.« Was wunderbar klingt: Nach einer blühenden Magnolien-Allee, die man nur entlangzuwandeln bereit sein muss.

Alles, was Wagenknecht am Brandenburger Tor sagte, klang nach einer leicht zu lösenden Konstellation: Da gibt es den Frieden – und da gibt es die amerikanischen Luftangriffe, die nun den Frieden stören. Kein kritisches Wort zu Assad, der sein Volk systematisch vernichtet. Keines zu Putin, der ihm dabei hilft. Frieden, so hätte es ein Mensch verstehen müssen, der zufällig in die Veranstaltung geraten wäre und noch nie im Leben etwas vom Syrienkrieg gehört hat, Frieden hätten die USA durch bloße Unterlassung erreicht. Wäre Wagenknecht ehrlich – gegenüber sich, der Welt und den Wörtern –, hätte sie nicht von Frieden gesprochen. Nein, sie hätte vielleicht gesagt: »Wir wollen nicht, dass der Krieg der Amerikaner den Krieg der Syrer stört.« Oder: »Für mich war dieser Krieg akzeptabel und bisher kein Grund zu demonstrieren, aber diese Marschflugkörper der USA haben wirklich eine Grenze überschritten.«

Wenn es um Frieden geht, klingen links außen und rechts außen übrigens sehr ähnlich. Aus Protest gegen die USA versammelte sich Pegida Mitte April zur großen Friedens-Demo auf dem Dresdner Altmarkt. Man traf sich unter dem catchy Motto: »Wir wollen gegen die Kriegshetze unserer Medien und unserer Regierung ein Zeichen des Friedens setzen.« Auf dem Sprecherwagen standen auch AfD-Abgeordnete aus dem Bundestag. Wäre jemand in diese Veranstaltung geraten, der zuvor noch nie im Leben etwas vom Syrienkrieg gehört hat, er wäre schnell zur Überzeugung gekommen, dass Syrien eigentlich ein friedliches Land ist. Wären da nicht die USA und die deutschen Medien.

Das rechte Blog Sachsen-Depesche schwärmte nach der Demo von der »pazifistischen Haltung« der Pegidianer und von ihrer »tiefen Friedenssehnsucht«. Klar: Und als Ausdruck dieser Sehnsucht schwenkt man bei Pegida wechselweise Russlandfahnen und preußische Reichskriegsflaggen. Unterstützt wird diese Sehnsucht von Alexander Gauland, der an einem Tag die Leistungen der deutschen Soldaten in zwei Weltkriegen lobt und sich am nächsten Tag, nach dem amerikanischen Luftangriff in Syrien, im Parlament als Friedenstaube geriert.

Es wird erst ein Schuh aus alldem, wenn man noch mal im Lexikon blättert. Frieden hat noch eine zweite Bedeutung, nämlich: Seelenruhe. Dann versteht man, warum die Querfront der Friedensaktivisten einen Krieg von Assad und Putin akzeptieren kann. Einen der USA aber nicht. Der Krieg des ideologischen Freundes stört ihren Frieden nicht, trotz Hunderttausenden Toten. Der Krieg des ideologischen Gegners schon. Sie demonstrieren weniger für die Abwesenheit von Krieg.

Sie demonstrieren für ihre Seelenruhe.

Mein Leben als Schneeflocke

Oft werde ich gefragt, wie es eigentlich ist, diese Kolumne zu schreiben. Nein, ich muss anders beginnen. Noch nie hat mich jemand gefragt, wie es eigentlich ist, diese Kolumne zu schreiben. Aber würde mich jemand fragen, dann würde ich ihm einen magenschonenden Wohlfühl-Americano ausgeben, einen extragroßen, XXXL, und mich unterhaken und ihm bei einem unvergleichlichen Spaziergang durch die Frühlingssonne, die frech hinter den Wolken hervorblinzelt, erzählen, was ich noch nie jemandem erzählt habe.

Erinnerst du dich an Carrie Bradshaw aus Sex and the City?, würde ich fragen. Mit ihrem wundervollen, süßen Apartment in der Upper East Side? Ach, dieser begehbare Kleiderschrank. Ich brauche wirklich nicht viel. Aber ein begehbarer Kleiderschrank, wie Carrie ihn hat, das ist ein heimlicher Traum.

Also Carrie Bradshaw, du erinnerst dich, schreibt eine Kolumne über Singles in New York. Sie sitzt vor ihrem Macbook und krault sich verträumt ihre goldenen Locken. Und dann schüttelt sie ihre grazilen Finger und schreibt einfach drauflos, einfach von der Seele weg, du musst es fühlen als Kolumnist. Manchmal schreibt Carrie nur ein Wort und schaut es versunken an und hört in sich hinein, ob sie das Wort wirklich auch meint: love . Und dann belohnt sie sich mit einem hübschen Einkauf bei Manolo Blahnik in der Vierundfünfzigsten Straße. Belohnung ist total wichtig! Ich habe mal gehört, dass im Gehirn das Belohnungszentrum direkt neben dem Kolumnenzentrum sitzt. Also nicht in jedem Gehirn, nur im Gehirn von Kolumnisten.

Na ja, und dann muss die Umgebung stimmen. Nur so entsteht eine wunderbare Kolumne. Ganz besonders gut kann ich schreiben, wenn es draußen schneit und ich den klitzekleinen Flocken vor meinem Fenster beim Herumwirbeln zuschauen kann. Wie Carrie hinter ihren schweren Gardinen in Manhattan. Und dann träume ich ein bisschen und stelle mir vor, ich wäre selbst so eine kleine Flocke und ließe mich einfach vom Wind tragen. Und dann frage ich mich: Felix, wie würdest du diese Kolumne schreiben, wenn du eine klitzekleine Schneeflocke wärst? Du musst als Kolumnist in der Lage sein, einen Text aus der Sicht einer Schneeflocke zu schreiben. So entstehen luftige, gefühlvolle Texte. Das mag seltsam klingen. Aber für eine wunderbare Kolumne ist Fantasie sehr wichtig. Fantasie und Liebe. Und meine dampfende Jumbotasse mit frisch gebrühtem Arabica-Kaffee.

Carrie schreibt ihre Kolumne einmal die Woche. Mir wäre das zu viel Druck. Ich schreibe diese Kolumne alle drei Wochen. An manchen Tagen fühle ich es einfach nicht. Ich rufe bei den Kollegen in der Redaktion an und sage: Ich fühle es heute einfach nicht. Die Kollegen sind total verständnisvoll. Die wissen auch, dass man mich zu nichts drängen sollte. Da kommt man mit Befehlen nicht weit. Denn niemand hat etwas davon, wenn ich einen gehetzten Text schreibe, den ich überhaupt nicht fühle.

Carrie sagt, das ist ein ganz wunderbares Zitat von ihr: »Vergiss nicht, dich zuallererst in dich selbst zu verlieben.« Du musst dich lieben als Kolumnist. Die Leser spüren ganz genau, ob du dich liebst oder nicht. Die haben da ein ganz feines Gespür. Ein anderes Mal, ich weiß nicht mehr, in welcher Staffel das ist, sagt Carrie: »Vielleicht ist die Vergangenheit wie ein Anker, der uns zurückhält.«

Wenn ich mal wieder vor meinem Laptop sitze, in eine flauschige Schurwolldecke gehüllt, meine geliebte Jumbotasse neben mir, der Cursor blinkt erwartungsfroh auf dem unschuldig weißen Dokument, und mich befallen plötzlich Zweifel, ob meine nächste Kolumne so gefühlvoll werden kann wie die letzte, dann höre ich die Stimme von Carrie.

»Felix«, sagt sie. »Die Vergangenheit ist wie ein Anker, der uns zurückhält.«

Ich stelle eine Rückfrage: »Soll ich den Anker lichten, Carrie?«

»Lichte den Anker, Felix.«

»Und wenn ich dann immer noch blockiert bin, Carrie?«

»Dann kauf frische Himbeeren, Felix, lad deine besten Freunde ein, und ihr mischt euch ein paar spritzige Cosmopolitans!«

Liebe in Zeiten der Taliban

Vor ein paar Tagen entdeckte ich das Wort »durchbrennen« in der Zeitung. Was ein schönes, strahlendes Wort! Es bezeichnet ja im doppelten Sinne etwas Aufwallendes, Juveniles, etwas irgendwie Eskalierendes. Sicherungen brennen bei Überhitzung durch, Mädchen in englischen Internaten brennen durch. Sie tun das, weil das stumme Sein im Zimmer nicht mehr auszuhalten ist, weil hinter dem efeuumrankten Fenster, aus dem sie klettern, etwas Besseres, Freieres wartet. Eine warme Nacht, ein Fahrrad, das am Regenrohr lehnt. Vielleicht eine Liebe.

Es war nur eine Meldung, acht magere Sätze, eine Nachricht aus Afghanistan, in der zur Abwechslung nichts explodierte und niemand starb. Sie war so kurz und leise und brutal, schon der erste Satz erwischte mich wie eine Ohrfeige: »Für den Versuch, gemeinsam durchzubrennen, haben die radikalislamischen Taliban in Afghanistan ein junges Paar öffentlich auspeitschen lassen.« Ich wollte zurückschlagen, doch meine Hand stocherte im Nichts der Düsternis.

Dieses Paar, so las ich, floh aus dem Norden des Landes, wo die Taliban regieren, in die zentrale Provinz Ghor, nachdem ihre Familien eine Hochzeit abgelehnt hatten. Ihre Flucht missglückte, Familienmitglieder sammelten sie ein und brachten sie zurück in ihr Dorf, in die Provinz Farjab. Dort hielten die Taliban eine »provisorische« Gerichtsverhandlung ab, was auch immer das Wort »provisorisch« hier zu bedeuten hat; wohl kaum die Einsicht der Beteiligten, dass Unrecht immer ein Provisorium ist, das irgendwann einstürzt, zertrümmert und entsorgt wird auf der Müllhalde der Geschichte.

Das Gericht verurteilte das Paar zu öffentlichem Auspeitschen. Nun stelle ich sie mir vor: mit Striemen am Körper und voller Sehnsucht. Eine moderne Variante von Romeo und Julia. Wobei »modern« durch »steinzeitlich« zu ersetzen ist, man tut dem Italien des 14. Jahrhunderts wahrscheinlich unrecht, wenn man es mit einer Taliban-Provinz vergleicht.

Worüber haben wohl jene Brüder, Väter, Cousins oder Onkel gesprochen, als sie ihr Land durchquerten, auf der Suche nach dem geflohenen Paar? Kamen ihnen, wie jedem Wandernden üblicherweise, nicht irgendwann Zweifel an ihren Gewissheiten und am festen Glauben, mit dem sie aufgebrochen waren? Zweifel zum Beispiel daran, dass dieser Gott, der die kühnen Berge von Farjab erschaffen hat, es tatsächlich gut findet, dass man zwei Menschen einfängt und bestraft, weil sie einander lieben.

Was fühlten die Brüder, die Väter, die Cousins oder Onkel, als sie die Liebenden aufgespürt hatten? Und warum ließ Gott, der die Berge von Farjab erschuf, nicht in jenem unglückseligen Moment einen Sandsturm aufkommen, so wild und wütend, in dem ein jeder sich verliert, der nicht Händchen hält? Ich glaube, dass es einen Gott gibt (wobei sich dieser Glaube durch eine lange Wanderung erschüttern ließe). Ich glaube nicht, dass er uns Gesetze, Normen, Regeln, Zwänge, Propheten und Religionen schickt, die heiliger und schützenswerter sind als die Liebe zwischen zwei Menschen, als ihre Zärtlichkeit, ihr Kümmern, ihre Verantwortung füreinander, als ihre Begierde.

Vor Jahren gingen in der islamischen Welt zornesrote Männer auf die Straße, weil eine dänische Zeitung Mohammed-Karikaturen gedruckt hatte. An jenem Tag, an dem dieselben Männer, oder vielleicht ihre Söhne und Töchter, auf die Straße gehen, weil ein Paar aus Farjab in Afghanistan von ein paar Idioten auseinandergerissen wird, gegen jede Regel der Menschlichkeit; an jenem Tag, an dem Extremisten irgendwo zwischen Kabul und Marrakesch Plastikstühle zertrümmern und Fahnen verbrennen – für das Recht auf Freiheit, für das Recht auf Liebe, für das universelle Recht auf Glück –, konvertiere ich zum Islam, zur Religion des Friedens, inschallah.

Wo sind die Liebenden von Farjab jetzt? Wie viele Dörfer trennen sie? Haben sie einen guten Plan, um wieder durchzubrennen? Ich drücke die Daumen, ihr beiden, ich denke an euch.

Die Retterin Englands

Es gibt Gedanken, die versucht man zu unterdrücken wie einen Schluckauf. Weil man nicht sicher ist, ob es okay ist, sie zu haben. Neulich versuchte ich den Gedanken zu vertreiben, dass die Monarchie irgendwie besser ist als die Demokratie. Würdevoller und auch seriöser. Ich habe meinen Kopf von rechts nach links gedreht, ihn gesenkt und geschüttelt, doch der Gedanke wollte nicht gehen.

Prinz Harry, dieser Goldjunge, der inzwischen voll in der Spur ist und nicht mehr in Hakenkreuz-Uniform auf irgendwelchen Partys erscheint, ist verliebt – so sehr, dass er sich verlobt hat und im Mai heiraten wird.

Seine Verlobte, Meghan Markle, amerikanische Schauspielerin, coole Frau, legt sich in diesen Tagen mit dem Protokoll an, weil sie die seltsame Regel nicht akzeptieren will, dass bei einer royalen Hochzeit so ziemlich jeder eine Rede halten darf außer der Braut.

Sie wird sich durchsetzen und ihre Rede halten, jede Wette. Der Palast wird mal wieder genug Zeitgeist hereinlassen. Wie sehr das Königshaus die Kunst der Wandlung beherrscht, ist momentan in der Netflix-Serie The Crown zu bestaunen, die ich empfehle.

Als Queen Elizabeth zu Beginn ihrer Regentschaft von der National and English Reviewfür ihre versnobte Britishness zerrissen wurde, da reagierte sie mit Reformen. Sie führte eine weihnachtliche TV-Ansprache ein und Palastempfänge für Leute aus dem Volk. Sie lenkte aus dem Hintergrund, korrigierte, nordete ein, empfing den Premier in wöchentlichen Audienzen. So ging man Schritt für Schritt in die Zukunft, voller Orientierung und Stolz. Und so geht man noch heute. Ganz anders die gewählten Vertreter des Landes, die stolpern nur noch.

Der britische Humor ist ja bekannt für seine Albernheit, für den Quatsch von Monty Python. Doch der beste Witz, den Großbritannien in jüngster Zeit hervorgebracht hat, ist der Brexit. Man könnte es Slapstick-Demokratie nennen: eine Aneinanderreihung von Zufällen, Ungeschicktheiten, von ungestümen Richtungswechseln. So planvoll und elegant ist sonst nur Mr. Bean beim Versuch, seinen Mini einzuparken. Entweder ist die Parklücke zu eng, und er kriegt die Tür nicht mehr auf. Oder er schiebt ein anderes Auto weg, das dann umkippt. Und wir?

Haben immer noch keine Regierung, man merkt es kaum noch. Die Augenringe von Martin Schulz werden dunkler, seine Bewegungen langsamer, schläft er überhaupt noch? Vielleicht ist er sogar so erschöpft, dass sein phänomenales Umfallen im Sekundenschlaf passierte: Vor Kurzem schloss er noch kategorisch aus, Minister unter Merkel zu werden, und jetzt erwägt er das genaue Gegenteil. Demokratie als müdes Wanken.

Na ja, und dann noch dieser andere Typ. Der lässt einen wirklich am demokratischen Prinzip zweifeln, dass jeder, einfach jeder, Macht haben kann. David Axelrod, der einst Berater war bei Obama, twitterte neulich ein Bild von Donald Trump: der Präsident mitAmerica great again- Kappe an seinem Schreibtisch im Oval Office, vorgebeugt und umständlich den Telefonhörer haltend. Warum sieht dieser Mann, so fragte Axelrod, nur aus wie ein Rentner, der bei einer Führung durchs Weiße Haus mal den Schreibtisch ausprobieren will? Und da sah man sofort eine Verwechslungskomödie vor sich: Ein pensionierter Immobilienmakler aus New York gerät als Tourist ins Weiße Haus und wird plötzlich für den Präsidenten gehalten.

Darf Demokratie so lustig sein? Oder ist sie dann lächerlich?

Dieser Typ hat übrigens noch keine Einladung erhalten für das, was am 19. Mai in der Kapelle von Windsor Castle geschieht. Dort wird das Königshaus nicht nur eine Hochzeit feiern, sondern das irrsinnige Prinzip, dass Macht – wenn auch nur sanfte – durch Heirat und Geburt übertragen wird.

Dieser Irrsinn bringt halt den kleinen Vorteil mit sich, dass ein Monarch die Macht nicht nach Belieben erobern, benutzen und wegwerfen kann, sondern sie ein Leben lang zu tragen hat, wie seine Segelohren.

Die Meersalz-Grenze

Früher, als wir noch Bier in der Badewanne kühlten, es ist noch nicht so lange her, da gab es Tage, an denen ich keinen Cent ausgab, und es war richtig gut. In der Mensa aß ich den Teller von Freunden leer, die den Kartoffelbrei-Berg nur halb abtrugen, weil sie entweder fitnessinteressierte Frauen waren oder sehr klein. Ich kochte mir umsonst Kaffee in einem düsteren Fachschafts-Raum, in dem Historiker über Bauernkriege nachdachten. Es war eine gute Zeit, ich war recht schlank und verhältnismäßig dynamisch.

Neulich stand ich in Hamburg im Frischeparadies. Dort bekommt man sehr ordentliches Nordseekrabbenfleisch, das kann man sich hin und wieder gönnen. Wenn man etwas müde ist vom Umhergucken (oh, die Shiitake-Pilze sind im Angebot), nimmt man ein Gläschen Taittinger an der Frischeparadies-Theke, das zeichnet die Umgebung weich und macht warm im Kopf. Ich habe jetzt, wenn ich ein bisschen nach unten gucke, ein Doppelkinn. Ich arbeite bei der ZEIT und schätze Fleur de Sel, es ist (habe ich mich neulich sagen hören) einfach nicht dasselbe wie Salz.

Es ist nicht nur nicht dasselbe, es ist etwas vollkommen anderes: Wo das Salzkorn plump auf der Zunge liegt, schmilzt Fleur de Sel wie ein papierdünner Schokoladenraspel und versickert in den Geschmacksknospen. Es fällt nicht wie Sand auf den Teller, Fleur de Sel geht nieder wie eine Feder, es segelt regelrecht. In Zehntelsekunden zergeht es auf einem heißen T-Bone, das habe ich neulich in einem Steakhouse beobachtet. Vor dem Essen hatte ich einen Manhattan. Die Bitterkeit, die er hinterließ, spülte ich mit einem Crémant von der Mosel hinunter. Es klingt nicht sympathisch, aber es war genau so.

Als ich verstanden hatte, dass Fleur de Sel etwas vollkommen anderes ist als Salz, guckte ich bei Manufactum vorbei. Manchmal treffe ich dort ZEIT- Kollegen, und seltsamerweise grüßt man sich dann verschämt, als würde man sich zufällig im Puff begegnen. Ich fragte den Verkäufer, ob sie Fleur de Sel aus der Camargue führten, ich glaube, ich benutzte wirklich das Wort führen. »Nein«, sagte der Verkäufer. »Aber ich kann Ihnen Fleur de Sel aus der Guérande anbieten.« Ich schwieg, er ahnte meinen Unmut, da sagte der Mann: »Haben Sie schon bei Perfetto Feinkost im Karstadt gefragt?« Ich machte mich auf den Heimweg und war ungelogen etwas verstimmt.

Das, was gerade passiert, nenne ich die Überquerung der Meersalz-Grenze. Hier kippt das Gefühl, dass man sich etwas doch mal leisten könnte, in Saturiertheit, in ein selbstgewisses Das-steht-mir-jetzt-zu. Wie mit einem Eispickel bin ich hinaufgestiegen, habe mich in höheren Ansprüchen festgekeilt, wobei das Bild nicht passt: Es ist alles nicht wirklich anstrengend und kaum gefährlich. Es geschieht eher so, wie die Polkappen schmelzen oder wie Gehälter steigen, allein weil man lange in einem Unternehmen bleibt. Auf die Butter folgte gesalzene Butter aus Irland, folgte Butter aus Büffelmilch, nicht dass ich die immer kaufen würde, aber zur Belohnung, wenn alles ein bisschen anstrengend ist, nehme ich die; sie ist cremig, sehr aromatisch und nicht zu vergleichen mit Butter von der Kuh.

Als wir noch Bier in der Badewanne kühlten, schauten wir regelmäßig unseren Lieblingsfilm: Das Große Fressen von 1973. Vier Freunde, so beschreibt es Wikipedia, treffen sich an einem Wochenende im Spätherbst, um aus Lebensüberdruss durch übermäßiges Essen feierlich kollektiven Suizid zu begehen. Was nun negativer klingt, als es ist, denn die Freunde sitzen in einem herrschaftlichen Stadthaus am Rande von Paris und füttern ihre Enten vor der Schlachtung mit Trüffelschokolade, damit das Fleisch süßlich und ein bisschen herb schmeckt. Einer ertrinkt tragisch in seiner Scheiße, ein anderer vögelt sich tot, der Dritte fährt mit dem Rennauto ins Jenseits, und der Vierte … weiß ich nicht mehr.

…haste mal ne Meinung?

Weihnachten rückt näher, die Menschen rücken näher, Kollegen rücken näher, man sitzt mit Freunden und Familie so rum und folglich redet man auch mehr, auch mal politisch, auch mal zu viel. Und weil diese Gespräche unweigerlich nahen, ist jetzt der richtige Zeitpunkt, sich einmal Gedanken zu machen, wie man in diese Gespräche reingeht und wie man wieder rauskommt. Vorbereitung ist alles.

Die Themen sind abzusehen. Vielleicht noch ein bisschen Jamaika, letzte Bemerkungen. Glyphosat nur kurz, weil niemand genau weiß, was das ist. Groko, klar. Trump natürlich, ein Segen für jede Konversation, Einigkeit bis kurz vor den Hitler-Vergleich. Und wenn nicht noch etwas Größeres dazwischen kommt, dann höchstwahrscheinlich Jerusalem, der Umzug der amerikanischen Botschaft. Gerade an Weihnachten! Dieses Gespräch wird kommen. Mit besorgtem Blick auf die Krippe unter dem Baum. Im Licht der Kerzen. Garantiert.

Die Meinungen werden flauschig in den nächsten Tagen, sie werden ein bisschen alkoholisiert, ein bisschen träge vom schweren Mahl. Aber das heißt nicht, dass man alles plätschern lassen sollte. Ruhig mal dazwischen gehen.

Es endet ja immer damit, dass der eine dem anderen etwas Lustiges auf dem Handy zeigt. Wenn es also um Trump geht und seine Entscheidung, die amerikanische Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, erwähnt der Kollege auf der Weihnachtsfeier, der gerade sein Smartphone rauszieht, möglicherweise diese nette Karikatur, die er in der Zeitung gesehen hat, er hat sie abfotografiert: Ein Umzugswagen mit der Aufschrift „Tel-Aviv – Jerusalem.“ Der Fahrer ist ein Enten-Tier, das an Trump erinnert. Und darunter steht: „LKW-Attentat in Nahost.“

Wer ist denn „die geheime Regierung“?

Da gibt es dann die Möglichkeit zu schmunzeln, jaja, haha, oder man fragt mal vorsichtig nach: „Hä, das verstehe ich nicht? Warum denn LKW-Attentat? So wie auf dem Breitscheidplatz? So wie in Jerusalem in Januar? So wie in Nizza? Warum sitzt denn da Trump am Steuer?“ Und wenn der Kollege dann sagt, plötzlich ernst, aber längst nicht nüchtern, dass Trump durch seine Entscheidung ja schon eine Gewaltwelle auslöst in der Region, dann lohnt es sich, ihn zu fragen, wie er eigentlich auf Palästinenser guckt, ob das für ihn so etwas wie Löwen sind, die man nicht reizen darf. Und wie er eigentlich Obama fand. Großartig? Toll? Gut. Dann Kurztrip in die Geschichte: Dieser Obama sagte schon 2008 im Wahlkampf, zu einer Zeit, als er hier wie ein Messias gehandelt wurde, der das Land der großen Autos heilt, dieser Obama sagte damals schon, dass Jerusalem die ungeteilte Hauptstadt Israels bliebe, des jüdischen Staats Israel. Und dass die Palästinenser das akzeptieren müssten.

Na ja, und wenn der Kollege, das kann passieren, dann anmerkt, dass Obama halt gezwungen war, das zu sagen, weil die „jüdische Lobby“ in Amerika eben sehr stark sei, dann lassen Sie sich erklären, was genau er mit „jüdischer Lobby“ meint. Scheint ja ein Experte zu sein. Ob die auch einen Einfluss hat in Deutschland? Ob die auch etwas mit der „geheimen Regierung hinter der Regierung“ zu tun hat, von der neulich Oskar Lafontaine sprach auf einer Friedenskundgebung in Ramstein? Lassen sie es sich alles erklären und bestehen Sie unbedingt auf Konkretion. Na ja, und bevor sie ihn stehen lassen, weil es ja doch keinen Sinn hat, fragen Sie noch mal nach, ob der Karikaturist eigentlich der gleiche ist, der gerne mal israelische Panzer zeichnet, wie sie mit ihrem Kettenantrieb Kinder überfahren, das müsste doch der gleiche Zeichner sein, sieht doch fast danach aus.

Wenn sich die Frage nicht klären lässt, dann vielleicht ein kleines Quiz zum Abschied. Welcher Politiker kritisierte Trumps Entscheidung mit dem Satz „Politiker sollten für Versöhnung und nicht für Chaos sorgen“? War es a) Katrin Göring-Eckardt, b) Oskar Lafontaine, oder doch c) Recep Tayyip Erdoğan. Und dann vielleicht einfach gehen. Er wird die Lösung schon googeln. Moment, wenn der Kollege jünger ist, dann zeigt er vielleicht eher diese superlustige Satire-Meldung, die gerade im Internet geteilt und sehr gemocht wird. Man sieht Trump und Mahmud Abbas und darüber steht auf Englisch die Schlagzeile: „Palästinenser erkennen Texas als Teil von Mexiko an.“ Auch diesen Witz: detailliert erklären lassen, nachfragen. Ist also Jerusalem so wenig Israel, wie Texas ein Teil von Mexiko ist? Die Pointe jagen, bis sie in Ihren winterlich kalten Händen stirbt.

Immer dieses „Aber“

Manchmal ist es ja auch zu mühsam. Dann kann man den Winterplausch schon damit beginnen, dass man das Gespräch in Richtung jener gut 1.000 Demonstranten lenkt, die kurz vor dem zweiten Advent vor dem Brandenburger Tor standen, nahe der amerikanischen Botschaft. Die eine Flagge verbrannten, auf die sie den Davidstern gekritzelt hatten. Die Fahnen der Hamas schwenkten, einer islamistischen Terrororganisation. Und die der Berliner Polizei so normal vorkamen in ihrem Judenhass, dass sie später in einer Mitteilung zunächst von einer Kundgebung ohne „größere Störungen“ sprach. Was hätten die armen, wütenden Männer machen müssen für eine „größere Störung“? Auf ein Baugerüst klettern wie diese Demo-Hipster bei G20?

Na ja, aber um diese offensichtlichen Judenhasser, die dem Aufruf zu „Tagen des Zorns“ folgten, als sei Zorn ein planbares Termingeschäft, Emotions made in Arabia , um die soll es hier gar nicht gehen. Es soll eher um jene gehen, die ihren Finger in den Mainstream halten und einen abgesicherten Köpfer machen in die warme Strömung der Israelkritik: Sie finden schon irgendwie im Prinzip richtig, dass Angela Merkel damals vor der Knesset sagte, dass die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson gehöre. Aber.

Und dann folgen viele Sätze, an denen man sie erkennt. Dann relativieren sie das Wort „Sicherheit“, das Wort „Staatsräson“ und das Wort „gehört“. Sie relativieren vorsichtig in der Variante Gauck (Israels Sicherheit, so sagte er als Bundespräsident, sei höchstens „bestimmend“ für die deutsche Politik) oder weniger vorsichtig in der Variante Gauland, er negierte bereits ein Tag nach der Bundestagswahl die deutsche Verantwortung im Ernstfall.

Dann hinterfragen sie plötzlich den Begriff des Terroristen, wenn es um junge Palästinenser geht, die israelische Polizisten abstechen oder einen Mann im Supermarkt, der Regale einräumt. Fragen kritisch, nur eine Frage, nicht falsch verstehen, ob es nicht so etwas wie das Recht auf Widerstand gibt? Relativieren den Begriff des Terroristen, wenn jüdische Siedlerfamilien abgemetzelt werden, weil die ja dort… eigentlich… halt… irgendwie… nicht leben dürfen. Ein „selbst Schuld“ in vielen Worten. Da lohnt eine Gegenfrage: Warum ist etwas, das auf der ganzen Welt als Terror bezeichnet würde, in Israel plötzlich Widerstand?

Dann relativieren sie auch den Begriff der Gewalt, sobald sie ausgeübt wird von Palästinensern: Die Gewalt wird semantisch zu „Unruhen“ umlackiert, zu „Aufständen“. Schließlich heißt das Wort Intifada, so erklärt es auch die Tagesschau , „den Staub abschütteln“. Was natürlich gleich viel netter klingt: Er ist nicht mit einem LKW in flanierende Passanten gerast. Er hat nur Staub abgeschüttelt.

Dagegen hilft nur kaltes Wasser, hilft nur die Realität. Man muss solchen Leuten verwehren, dass sie einen LKW-Anschlag in Israel romantisch zu einer Heldengeschichte verklären. Denn es ist – hier kommt der kalte Eimer – immer exakt gleich widerlich, wenn ein Mensch im Namen Allahs und der Unterdrückten in eine Menschenmenge fährt, egal ob er das in Barcelona tut, in Nizza, in Berlin oder in Jerusalem. Das muss der Wellness-Israelkritiker begreifen: Das sind nicht Taten von Unterlegenen mit Gerechtigkeitshunger, keine Spur Robin Hood. Sie nehmen nicht Leben und geben es den Anderen, den Armen, den Geschundenen.

Terror ist erfinderisch

Man kann das Leben nicht aus den Rillen der LKW-Reifen kratzen und es weitergeben wie ein Licht an jene, die es angeblich mehr verdient haben: In die Dunkelheit, hinter die Mauer im Westjordanland, auf die der Pinsel-Künstler Banksy so gerne seine Israelkritik schmiert. Die Mauer, das schreibt Banksy nicht dazu, die dafür sorgt, dass Terroristen nicht ungehindert rüberkommen, Gott spielen und sich in völliger Verblendung und im Gefühl moralischer Überlegenheit Leben nehmen. Das Leben der anderen und das eigene. Doch ihr Terror ist erfinderisch. Er proletarisiert sich, die Mordwaffen werden simpler: Von der gebastelten Bombe zum stumpfen Gegenstand. Messer. Autos. Lastwagen.

Wo ist das Mitgefühl für ein Land, dass diesem Wahnsinn ausgesetzt ist? Israel. Wenn man in Deutschland über palästinensischen Terror redet, dann klingt es in neun von zehn Fällen noch immer nach menschenverachtender Verharmlosung. Nach dem, was der Moraltheologe Eugen Drewermann kurz nach dem 11. September sagte. Dass der Terror nämlich eine „Ersatzsprache“ sei, „weil berechtigte Anliegen nicht gehört wurden“. Was wahrscheinlich das Unmoralischste ist, was ein Moraltheologe sagen kann. Also: Mohammed Atta hat nicht getötet. Nein. Er hat in einer Ersatzsprache kommuniziert. Klingt fast noch netter als „den Staub abschütteln“. Weil noch weniger nach Wüste, noch demokratischer, noch ziviler.

Okay, ja ja, schon klar, die Stimmung ist am Boden, der Nachtisch kommt. Der Freund, der vor Minuten noch so engagiert redete, hängt im Stuhl. Ein letztes.

Erinnerst du dich daran, als die Regierung von Bonn nach Berlin umgezogen ist? Haben wir damals nicht darüber gesprochen? Du hast dich gefreut, war das nicht so? Weil, so hast du es gesagt, die Wunden der Teilung etwas geheilt würden. Und weil Berlin eben die Hauptstadt sei! Und nicht dieses graue Nest im Rheinland. Es sei das Recht eines souveränen Staats, seine Hauptstadt zu bestimmen. Beim Wort „Recht“ hast du mit der Faust auf den Tisch gehauen.

Irgendwie ging es auch um Thatcher, dieses eindrückliche Zitat: „Wir haben Deutschland zweimal geschlagen, nun sind sie wieder da.“ Es ging darum, dass Bonn auch eine Harmlosigkeit ausstrahlte, die uns ganz gut gestanden hat. Hast du selbst gesagt, in Abwägung aller Argumente. Dann aber hast du angefügt, als sei es ein Gesetz auf den Tafeln Mose: Hauptstadt ist Berlin. Jene Stadt also, in der unsere Vorfahren den Judenmord planten. Jene Stadt, in der sich in diesen Tagen Leute aus Neukölln oder von sonst wo aufmachen, um vor dem Brandenburger Tor einen Davidstern zu verbrennen. Hauptstadt ist Berlin.

Das nächste Mal trinken wir ein bisschen weniger und diskutieren, warum das Gespräch immer wieder bei Israel landet. Warum nicht bei Ländern wie Hessen. Ist ungefähr gleich groß und auch ziemlich interessant.

Chaos

In diesen Tagen singe ich manchmal, sehr leise, ein Lied. Es ist ein bisschen klagend, die Melodie habe ich von Tim Bendzko geliehen, vom Superhit Keine Maschine . Mein Lied hat nur einen Refrain, und der wiederum hat nur eine Zeile, es ist ein kurzes Lied.

»Ich will doch nur eine Regiiierung …«, singe ich und schalte Phoenix aus, der Kopf ist sorgenvoll aufs Sofakissen gebettet, draußen novembert es so vor sich hin. »Ich will doch nur eine Regiiierung«, singe ich und bringe den Müll raus in den deutschen Herbst, und dann stehe ich in der Küche, poliere die Herdplatte, und der Deutschlandfunk meldet noch immer Unordnung in Berlin; Minderheitsregierung? Neuwahlen? Groko? Keine neue Regierung vor Silvester.

Es ist so seltsam, dieses Gefühl der Regierungslosigkeit, sehr unangenehm. Als ob alle Türen aufstehen und alle Fenster, Zugluft an der Schulter. Als ob die Küche seit Wochen in vollkommenem Chaos ist. Als wäre man aus dem Haus gegangen und würde sich nun fragen, ob das Bügeleisen noch steckt.

Zwischendurch dann aufkeimende Hoffnung, als Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestags, Gott sei Dank, öffentlich sagt: »Klar isch, dass regiert werden muss.« Ach, wäre Deutschland nur wie Baden-Württemberg oder noch besser: wie Württemberg. Dann wäre so vieles klar. Dass man nicht einfach vom Tisch aufsteht und geht, wenn noch alles in Unordnung ist. Dann wäre klar, dass Politik eben nicht Spaß macht, sondern Sinn, wie unser Landesvater so treffend sagt, Winfried Kretschmann. Aber das versteht ein Rheinländer nicht, Christian Lindner aus Wermelskirchen.

Kein Wunder, Rheinländer stehen gerne in bunten Hummelkostümen auf Bierbänken und grölen, wie schön doch das Leben ist, während draußen die Straßen vermüllen. Die finden Unordnung lustig, die nennen das Karneval. Ich finde das grauenhaft. Es ist einfach so unfair, weil es natürlich manche viel besser ertragen, dieses elendige Durcheinander. Berliner zum Beispiel, die finden das völlig okay, für die ist das ein Stück Normalität. Das Leben im Provisorium. Die denken sich: Warum soll es dem Land besser gehen als seiner Hauptstadt?

Hanseaten wiederum – ganz anders, das sind gute Leute, sehr ordentlich, sehr höflich. Für Hanseaten ist diese leidige Regierungslosigkeit auch schwer zu ertragen. Ein bisschen fühlt sich das an, als zöge der schwarze Block wieder über die Elbchaussee. Der Hanseat schätzt Understatement, er ist im Prinzip ein halber Schwabe: viel arbeiten, wenig reden. Ich stelle mir Helmut Schmidt vor, das tröstet mich in diesen Tagen. Wie er Lindner zusammenfalten würde und den ganzen dienstverweigernden Rest.

Deutschland ist als Land ja nur deshalb attraktiv, weil gilt: Wetter schlecht, aber Verhältnisse stabil. Das beruhigt einen ja schon sehr, wenn man aus dem Urlaub zurückkommt, mit Sonnenbrand der Stufe zwei über die Alpen fährt, die Autobahnschilder werden blau, die Windschutzscheibe ist sanft benetzt vom Nieselregen, und dann hört man Angela Merkel im Radio, das Glück der Kontinuität. Das beruhigt ungemein, kann mir keiner erzählen, dass das nicht so ist, das fühlen heimlich auch Querköpfe von Linkspartei, FDP und Anhänger anderer Chaosgruppen. Was, bitte schön, soll das noch für ein Land sein, wenn es nicht in der Lage ist, eine ordentliche Regierung zu bilden? Italien. Minus Sonne, Lässigkeit, Mittelmeer und Monica Bellucci.

Es würde mich ja schon beruhigen, wäre der Bundespräsident Schwabe. Klar, Steinmeier ist gut; unprätentiös und arbeitsam überredet er gerade die Volksparteien zum gemeinsamen Regieren. Horst Köhler aber wäre besser. Ich stelle mir vor, wie er sich zum Lindner vorlehnt und ihm klipp und klar sagt: »Sie ganget jetzt zum Cem Özdemir und gäbet ihm die Hand.« Und dann stapft der Lindner kleinlaut aus dem Schloss und fühlt sich wie der Lümmel, der schon wieder beim Rektor war.

Und dann würde der Köhler dem Lindner hinterhergucken und zu seiner Eva sagen: »A bissle domm isch jedr. Abbr so domm wia manchr isch koinr.«

Hamburger Haie

Jeder hat in seiner Jugend verrückte Dinge getan. Ich zum Beispiel war nach dem Abi Praktikant bei einem Bundestagsabgeordneten der CDU. Er war humorvoll, ließ mich machen und hatte Vertrauen. Dass ich ein gutes Bild von Berufspolitikern habe, liegt auch an ihm.

Vor ein paar Tagen las ich seinen Namen in der Berliner Zeitung. »Unverhohlener Lobbyismus im Bundestag«, stand da. Darüber ein Bild: Er hat sich kaum verändert, nur die Haare sind grau.

Am gleichen Tag telefonierte ich mit einem Makler. Ich hatte mich in Hamburg um eine Wohnung beworben. Ich könne sie haben, sagte er. Der Makler war freundlich und eloquent und hatte eine recht überzeugende Erklärung für den Umstand, dass der Eigentümer keinen Mietvertrag abschließen wolle – sondern einen Gewerbemietvertrag. Okay, sagte ich. Können Sie mir den Vertrag schicken? Nein, sagte der Makler.

Erst müsse ich ein zweiseitiges Dokument unterschreiben. Eine verbindliche Zusage. Aha. Aber wie kann ich einem Vertrag zustimmen, den ich gar nicht kenne? Er wurde ungeduldig: Der Eigentümer habe über hundert Objekte in der Stadt und wenig Zeit. Erst die Zusage, dann der Vertrag.

Ich kontaktierte einen Anwalt. Als ich ihm schilderte, was mir widerfahren war, begann er zu lachen. Entschuldigen Sie, sagte er, das ist absurd. Ein Gewerbemieter, lernte ich, hat viel weniger Rechte als ein normaler Mieter. Er kann, zum Beispiel, relativ problemlos aus der Wohnung geschmissen werden.

Ich googelte den Namen des Eigentümers, Treffer. Ich las von einem Mann, der bei einer Besichtigung ein Dokument ausgefüllt hatte – im Glauben, es sei eine Selbstauskunft. Nach der Besichtigung forderte der Eigentümer fast 5000 Euro von ihm. Der Interessent hatte, ohne es zu wissen, einen Mietvertrag unterschrieben. Ich las von einem Studenten, der auf der Suche nach einer Wohnung einen ziemlich miesen Vertrag unterschrieb – einen Gewerbemietvertrag. Er verpflichtete ihn, für die Beseitigung von bereits vorhandenen Feuchtigkeitsschäden aufzukommen und die Wohnung bei Auszug zu sanieren.

Ich sagte »Arschloch« in die Stille meines Büros, und wenig später sah ich dann eben meinen Abgeordneten in der Zeitung. Er ist nebenbei Vorsitzender von »Haus&Grund Württemberg«, einem Lobbyverband von Wohnungseigentümern. Nun prognostiziert er, pünktlich zu den Koalitionsverhandlungen, das Ende der Mietpreisbremse. Er gehe, so lässt er sich von einer Zeitung zitieren, von einer »stillen Beerdigung« aus.

Ein angekündigter Tod.

Meine Hand schwebte über dem Hörer. Ich wollte ihn anrufen, meinen ehemaligen Chef, legte mir Sätze zurecht: Was wird das für eine Koalition? Ein Elitenprojekt für Hausbesitzer? Was sollen die Menschen über Schwarz-Gelb-Grün denken, wenn Alexander Graf Lambsdorff, FDP, einer alleinerziehenden Mutter empfiehlt, wie unlängst geschehen, sie könne sich ja für die Altersvorsorge eine Immobilie zulegen? Wie stilvoll finden Sie das auf einer Skala von 0 bis 10?

Der Mietmarkt ist doch längst ein Raum entfesselter Kaltschnäuzigkeit. Wie die Autobahn. Hier herrscht Freiheit, wie sie falscher nicht verstanden werden kann. Die Mietpreisbremse abzuschaffen, diesen aufrechten und fast einzigen Versuch, etwas gegen diesen Wahnsinn zu tun – das wäre, wie Drängeln mit Lichthupe zu legalisieren. Ein Aufruf zur Asozialität wäre das.

Ich nahm meine Hand vom Hörer und atmete durch. Irgendwie musste ich an Martin Schulz denken, den sanften Choleriker. In einer Sendung vor der Wahl hatte man ihm ein altes Ehepaar aus Hamburg vorgestellt, Opfer von Mietwucher. Und Schulz war aus der Haut gefahren, wie es halt seine Art ist: Er werde den Vermieter anrufen, eine städtische Wohnungsbaugesellschaft, und fragen, ob die einen Knall haben!

Damals fand ich das ein bisschen peinlich und wenig souverän. Heute frage ich mich, ob Schulz da wirklich angerufen hat. Und ob er nicht auch bei meinem Makler anrufen will. Die Nummer gibt es bei mir.

Die Tuschelhand

Das Geheimnis des Fußballs ist der Ball, sagte einst Uwe Seeler. Er sagte das zu einer Zeit, als noch keiner auf deutschen Fußballplätzen etwas machte, was heute üblich ist und beinah Normalität: sich beim Sprechen schützend die Hand vor den Mund zu halten. Spieler tun das, Trainer, Manager. Als sei nicht mehr der Ball das Geheimnis, sondern das auf dem Feld dahingesprochene, -geschnauzte oder -geflüsterte Wort. Die Fußballer sehen dabei aus, als seien sie schüchterne Teenager, denen man gerade eine Spange verpasst hat, als schämten sie sich für ihre Zahnreihen.

Es fing aus Angst vor Lippenlesern an, bei der WM 2014, an der Weltspitze. Da konnte man es noch verstehen, irgendwie. Man nahm dem Gegner mit der vorgehaltenen Tuschelhand die Chance, sich durch Entschlüsselung einen kleinen Vorteil zu verschaffen. Wollte im Dunkeln lassen, was im Dunkeln bleiben soll. Um zu vermeiden, was Cristiano Ronaldo bei Real Madrid geschah, als er seinem Trainer auf Portugiesisch »Fick dich« zurief, das lasen die Fachleute jedenfalls von seinen Lippen ab. Diese Vorgänge, das Innenleben der Mannschaft, das Brodeln und Knarzen, sollten geheim bleiben beim Kampf um die Fußballweltherrschaft.

Doch inzwischen hat sich die Tuschelhand durchgesetzt bis ganz nach unten. Zum HSV, der im entscheidenden Spiel gegen den Abstieg tatsächlich glaubt, es sei nun das Wichtigste, vor dem Ausführen des Freistoßes zur Lagebesprechung die Hand vor den Mund zu halten, so als wolle irgendjemand auf dieser Welt die Freistoßtaktik des HSV kennen oder gar klauen. Sie hat sich verbreitet bei Bundesliga-Balljungen, die ihren Kollegen am Spielfeldrand schnell etwas rübernuscheln, mit vorgehaltener Hand. Und man fragt sich, um welches zu beschützende Geheimnis es sich da handelt: Planen die, den Ball zu verstecken? Selbst im Amateurfußball ist das zu beobachten, auf braunen Matschplätzen. Wenn der Trainer seinem Banknebensitzer, der vielleicht der Co-Trainer ist, aber möglicherweise nur sein Bruder, etwas ins Ohr sagt, nicht ohne – ich habe das selbst gesehen – das Gemurmel mit der Hand abzuschirmen. Irre.

Auf der anderen Seite ist der Fußball ja immer nur ein Spiegelbild der Gesellschaft. Und so entwickelt sich dort, auf dem Feld, meistens das, was auch abseits blüht. Zum Beispiel eben die seltsame Mode, ein Geheimnis zu suggerieren, wo keins ist. So fragen Politiker im Hintergrundgespräch mit Journalisten immer öfter, ob sie frei reden können und ob denn alles Besprochene im Raum bleiben wird. Und dann sagen diese Typen, schützend umhüllt vom Schleier der Verschwiegenheit, so umwerfende, bahnbrechende Dinge wie: Mir war das Land immer wichtiger als die Partei. Wow. Echt? Dass das mal keiner erfährt!

Im Privaten wird man unter dem Vorzeichen »muss unbedingt unter uns bleiben« zur Seite genommen, hofft dann auf geheime Pläne zum Überfallen einer Bank und bekommt am Ende doch nur von einem vielleicht möglichen Sabbatical erzählt. Aber diese Dinge muss man ja gar nicht geheim halten. Sie verbreiten sich schon deshalb nicht, weil sie kaum jemand interessieren.

Für alle, die nicht Cristiano Ronaldo sind: Das ist der Segen der Bedeutungslosigkeit. Er schützt uns vor dem Abgehörtwerden so viel verlässlicher als die vorgehaltene Hand.

Nehmt sie auseinander!

In jeder ordentlichen Kneipe gibt es einen Typen, der an der Bar sitzt und immer das Gleiche erzählt. Job weg, weil der Chef ein Penner war. Miete erhöht, diese verdammte Hausverwaltung. Dann hebt er den Blick, als komme jetzt was Neues, er schaut zum Wirt, als sei ihm blitzartig etwas eingefallen, schnipst mit dem Zeigefinger gegen das leere Glas. Eins könnte ich noch vertragen, sagt er dann.

Wenn man geht, ihm auf den Rücken klopft, sich verabschiedet, vor der Kneipe auf dem Gehweg steht und überlegt, ob man umkehren soll, eins noch, dann ist man gefangen in seltsamer Ambivalenz: Man mag diesen Typen, man mag ihn sehr. Seine Enttäuschung ist ehrlich und echt: Er hat, mit beinah kindlicher Naivität, Besseres erwartet von dieser Welt. Aber wie er immer wieder diese gleichen Geschichten erzählt, über die Gemeinheit des Lebens, über Unschuld und Unglück – man kann es nicht mehr hören. Man will ihm sein Bier in den Abfluss kippen, die Zigaretten zerdrücken, das Fenster aufreißen, ihn durchrütteln, anschreien, umarmen, ohrfeigen, auf die Straße zerren, irgendwas.

Dieser Typ ist wie die SPD. Sichtbar verbittert, aber nicht verzweifelt genug, um was zu ändern. Auch die SPD, die stolzeste und älteste Partei in diesem Land, sitzt nach der Wahl weiter da und erzählt dieselben Geschichten. Als könne man den Schmerz mit Selbstbeschwörung und ein paar Motzereien überwinden. Gegen Merkel, die sich jeder Debatte verweigert. Gegen die Medien, die einen nicht ausreden lassen. Gegen die Wähler, die nicht merken, was die SPD alles geleistet hat in den letzten Jahren. Und als Antwort auf die AfD sagt Schulz dann tatsächlich, seine Partei habe sich ja damals gegen Hitler gestellt. Als könne man sich vor der stürmischen Zukunft im Museum verstecken, irgendwo hinter einer Bronzefigur von Willy Brandt. Der Typ in der Bar erzählt in solchen Momenten gern von seinen Erfolgen in der C-Jugend. 1973, vier Tore gegen den VfL Güldenstern Stade. Was war das für ein Tag!

Es ist gespenstisch, wie die SPD ihrem Untergang entgegengeht. Im Marschschritt, mit gleichbleibendem Personal. Dass niemand öffentlich den Bankrott erklärt. Dass niemand einsehen will, dass 1998 noch 20 Millionen Wähler die Sozialdemokratie attraktiv fanden – und bei dieser Wahl nur noch 9,5 Millionen, weniger als die Hälfte. Und dabei waren darunter auch Wähler, die SPD gewählt haben, ohne sie attraktiv zu finden. Aus prinzipieller Zuneigung, manche sogar aus Mitleid. Es gibt viele von denen, ich kenne ein paar. Ich bin einer von ihnen.

Seit ich wählen darf, mache ich mein Kreuz bei der SPD. Mit zwanzig bin ich Mitglied geworden. Auf der Suche nach einer progressiven Partei, die links ist, aber nicht doof, pragmatisch, aber mit Herz. Ich mag diese Partei noch immer. Aber ich mag sie eher so, wie ich den Typen an der Bar mag.

Sie macht mich wütend und schwach, müde, melancholisch und traurig, wie mich der Typ an der Bar traurig macht. Und je länger ich nachdenke, woher diese Melancholie kommt und wie sie zu vertreiben ist, desto mehr glaube ich, dass es nur eine Lösung gibt: Diese Partei muss sich auflösen. Sie ist wie ein qualmendes Kohlekraftwerk. Die Lösung für eine Epoche, die ihr Ende gefunden hat. Eine Übergangstechnologie.

Letztes Jahr, da hatte ich zum ersten Mal dieses Gefühl, es war nicht mehr zu leugnen. Da sagte Sigmar Gabriel, damals noch Vorsitzender, die SPD müsse wieder die »Schutzmacht der kleinen Leute« werden. Ist es, lieber Sigmar, 227 Jahre nach der Stürmung der Bastille, einem emanzipatorischen Aufstand, der sich gegen Unfreiheit und Leibeigenschaft richtete, nicht brutal deprimierend und antimodern, Menschen als »kleine Leute« zu bezeichnen? Müsste eine Partei, die einen bitterarmen Halbwaisen aus Mossenberg an der Lippe zum Bundeskanzler gemacht hat, den Menschen nicht ein Gefühl von Größe geben, statt sie kleinzureden?

Sprache ist aus Realität gemacht. Aber Realität ist auch aus Sprache gemacht. Je länger man Menschen sagt, sie seien einfach und klein, was eine gängige Rhetorik ist unter deutschen Sozialdemokraten, desto mehr fühlen sie sich auch so, desto machtloser werden sie, desto ängstlicher, desto pessimistischer, desto weniger glauben sie an ihre Kraft. Bis sie irgendwann wirklich meinen, dass sie eine »Schutzmacht« brauchen. Dummerweise wählen sie dann aber lieber die AfD-Rüpel, die schützen robuster und ohne Rücksicht auf Verluste.

In einem besonders düsteren Moment des Wahlkampfs sagte Martin Schulz, ihm seien Golffahrer lieber als Golfspieler. Er versuchte, im Angesicht der Dieselkrise, mit diesem Satz Partei zu ergreifen für den »normalen Autofahrer« und sich gegen Automanager zu positionieren.

Kurz verglichen: Ein Schnupperkurs Golf kostet aktuell so viel wie ein Kinobesuch für zwei Personen. Schulz hätte also auch sagen können: Mir sind Kindergärtner lieber als Kinobesucher. Ist auch eine Alliteration und macht keinen Sinn.

Aber es geht nicht um diesen Satz, nicht um diesen Wahlkampf, das Problem ist größer. Es geht nicht mal um Schulz, der sich zum Provinzbürgermeister herunterspielte, obwohl er EU-Parlamentspräsident war, auch nicht um Steinbrück, den gut bezahlten Bankenredner, der für anständige Löhne kämpfte, und ebenso wenig um Steinmeier, der erst die Agenda 2010 erfand und dann für gesellschaftlichen Zusammenhalt warb.

Alle drei haben einen aussichtslosen Kampf geführt. 2009, 2013, 2017. Mit Kraft und Ausdauer warfen sie sich in die Niederlage. Die traurige Wahrheit ist, dass sie gar nicht gewinnen konnten. Denn das Elend der SPD hat nicht nur mit ihren Menschen zu tun, sondern vor allem mit ihrem Menschenbild. Und es ist ja nicht verwunderlich, dass eine Partei, die im Jahr 1875 gegründet wurde, als in Wien gerade die erste Rohrpost verschickt wurde, Staub angesetzt hat. Es ist nur seltsam, wenn alle den Staub ignorieren. Man hat dann auf diese Partei so viel Lust wie auf ein angelaufenes Minzkonfekt aus dem Handteller einer alten Dame.

Im späten 19. Jahrhundert, als die Industrialisierung Millionen von Menschen auspresste, sie in Fabriken sperrte und arbeiten ließ, ohne Pausen und Rechte, da war die SPD die weltbeste Antwort. Die modernste Technologie, wenn man so will. Sie organisierte den Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben. Sie reagierte mit grobem programmatischen Raster und kämpferischer Ansprache auf millionenfaches Arbeiterschicksal. Die Beschwernisse der Lohnabhängigkeit wurden ihr zum steten Themenquell. Die SPD wurde zur reaktiven Partei, die Schlimmeres abwendet, zum Bodyguard der Gebeugten. Noch heute definiert sie ihre Programmatik meistens ex negativo: gegen Befristungen, gegen Leiharbeit, gegen hohe Managerboni, gegen Lohndumping. Sie kämpft im Detail. Über das große Bild, die Zukunft der Arbeit, spricht sie kaum.

Neulich fuhr ich mit dem Auto durch Frankreich. Als ich an einer Mautstation hielt, um durch das heruntergekurbelte Fenster die Autobahngebühr zu bezahlen, erinnerte ich mich an meine Kindheit, als dort noch ein Mensch saß und das Geld entgegennahm. Damals, auf dem Weg in den Urlaub, hatte ich mich gefragt, ob es nicht ungesund ist und wahnsinnig deprimierend, den ganzen Tag zwischen Abgasen zu sitzen. Nun, zwei Jahrzehnte später, da ich die Karte in einen piependen Automaten schob, fragte ich mich, ob es ein Fortschritt ist, dass hier kein Mensch mehr in der Kabine sitzt. Ja, dachte ich. Ein großer.

Denn: Warum sollte ein Mensch eine Arbeit verrichten, die gefährlich ist und langweilig, wenn sie auch ebenso von einer Maschine erledigt werden kann? Warum sollen Fahrradfahrer noch ihr Leben im Straßenverkehr riskieren, wenn die Pizza eines Tages von selbststeuernden Robotern geliefert werden kann? Vom Kabarettisten Nico Semsrott stammt der gute Satz, dass in Deutschland jeder Arbeitsplatz einen Menschen bekommt – aber nicht jeder Mensch einen Arbeitsplatz.

Auch wenn das die allermeisten Sozialdemokraten zurückweisen würden: Das beschreibt sehr gut ihr Problem. Sie sehen den Menschen nur in seiner Lohnabhängigkeit. Die SPD hängt an einem zweidimensionalen Arbeitsbegriff, der nicht in die Gegenwart passt und schon gar nicht in die Zukunft. Nicht mal Fließbandarbeiter fühlen sich noch angesprochen von dieser paternalistischen Opferrhetorik, diesem Schweiß-und-Tränen-Gerede, vom Malocher-Kult. Es ist doch okay, wenn der Mensch weniger (oder angenehmer) arbeitet. Lasst die Roboter übernehmen und ein System entwickeln, in dem die Existenz weniger an der Lohnarbeit hängt.

In diesen Tagen wurde in Dubai übrigens eine Taxi-Drohne getestet, der VC200, entwickelt in Bruchsal, Baden-Württemberg. Bis 2030 soll in Dubai ein Drittel des Straßenverkehrs auf autonomen Transport umgestellt werden. Man kann diese Entwicklung ignorieren und die Zukunft in einem undemokratischen Wüstenstaat geschehen lassen, man kann sie aber auch beeinflussen und menschlich gestalten.

Alle großen Parteien sind schlecht darin, diese Zukunftsfrage zu behandeln. Die SPD aber braucht geradezu die schlechte Menschenarbeit, um sie besser zu machen. Gefangen in einer gewerkschaftlichen Tradition, in der man aus Angst vor Jobverlusten eine Autoindustrie beschützt, die dem Untergang entgegengeht, statt sie wachzurütteln. Ist das sozial?

Die SPD hat die Wahl: Sie kann untergehen wie die französischen Sozialisten. Als abgekapselter Apparat, der sich unter Ausblendung der Realität ins Nirwana reproduziert, als Versorgungswerk für treue Funktionäre. Gabriel, Schulz, Oppermann, Heil. Oder sie kann sich neu erfinden wie Emmanuel Macron. Mitreißend sein und risikofreudig. Macron, das hat er vielen Sozialdemokraten voraus, leitet seine Ideen aus der Wirklichkeit ab. Nicht die Wirklichkeit aus seinen Ideen.

In Zeiten der Ängstlichkeit, in der immer mehr Typen an der Bar hocken und jammern, in der alte Männer mit Hundekrawatte am Rad der Zeit drehen, und zwar in die falsche Richtung, muss die SPD radikal positiv werden, radikal zukünftig.

Ich stelle mir das in etwa so vor: Erst tritt der Vorsitzende zurück, Rückzug nach Würselen. Dann lösen sich die Ortsverbände auf. Dann ruft der vorwärts zur Neugründung auf. Diskussionen in Leipzig, Gelsenkirchen, Hamburg, Goslar; in Theatersälen, Turnhallen, Philharmonien und auf Schulhöfen. Einladung an alle. Rederecht für jeden. Kann das gelingen?

Keine Ahnung. Aber das fragt ein Arzt ja auch nicht, bevor er den Defibrillator auf den leblosen Körper drückt.

Ich habe einen Albtraum. Ich sehe Andrea Nahles auf einem Marktplatz stehen, Sommer 2021. Sie spricht mit diesem leidenden Klageton, der einen schlagartig traurig macht, von Krankenschwestern, Managern, von der hart arbeitenden Mitte. Und hinter ihr steht auf einem Banner: »Mehr Zeit für Gerechtigkeit«. Oder »Gerechtigkeit jetzt«. Oder »Jetzt Gerechtigkeit«. Oder »Wir für Gerechtigkeit«. Oder »Gerechtigkeit für uns«. Oder »Alle für Gerechtigkeit«.

Und dann wache ich auf. Müder denn je.

Ein bisschen Spaß muss sein!

Humor ist ein Handwerk, und einer der besten Klempner des Landes heißt Otto Waalkes, er arbeitet schnell und präzise. Er ist bald siebzig, und noch immer übersetzt er »I am hungry« mit »Ich bin Ungar«. In einem Interview sagte er mal, die beste Pointe sei jene, die der Zuschauer schon vage ahne.

Der Zuschauer lacht also, wenn seine Ahnung zur Gewissheit wird. Otto steht zufrieden vor dem sich krümmenden Kunden, Hände in den Hüften, mit vollem Klempnerstolz. Und dann klingelt er beim Nächsten an der Haustür und sagt: »Ihnen wird zur Last gelegt, Sie hätten an dem Mast gesägt.« Und der Kunde antwortet, mit gespielter Empörung: »Ich hab nicht an dem Mast gesägt, ich hab nur mit dem Ast gefegt.« Und Otto ruft »Holdrio«, gibt dem fröhlichen Familienvater die Hand und tritt ein.

Ein sehr erfolgreicher und fleißiger Handwerker ist auch Mario Barth, wenn ihn auch manche Bürger nicht auf ihr Fischgrätenparkett lassen wollen. Weil sie Angst haben, dass er anzüglich werden könnte oder im Stehen die Badfliesen vollpisst. Mario Barth ist der Plattenleger des deutschen Humors. Vielleicht auch der Trockenbaumonteur, Zerspanungsmechaniker oder Dachdecker. Einer dieser Handwerker, die oberkörperfrei arbeiten, die Goldkette verhakt sich am Nippel. Einer, der mit rotem Nacken auf dem Gerüst steht, eine Spachtel Gips an die Wand drückt und sagt: »Wenn meine Freundin Schuhe kauft – ich wär froh, wenn sie solche Geräusche beim Sex macht.« Und die Kollegen lachen, bis der Marlboro-Husten sie überkommt.

Ein ebenso guter Handwerker, wenn auch nicht mehr so arbeitsam, ist Harald Schmidt, vielleicht ein Holzblasinstrumentenbauer. Er streift müde durch seine Meisterwerkstatt, streichelt das verstaubte Holz. Spielt eine sentimentale Geste, Augenbraue hoch, etwas ironisch. Ach ja, sagt er. Neulich kam Schmidt aus seiner Werkstatt und gab ein Interview. Da zeigte er sein Können, beiläufig und angenehm desinteressiert. Oft beginnt es bei ihm mit der Beobachtung von Milieus und Menschen: In diesem Interview erzählte Schmidt von Gartenpartys, auf denen Typen mit einem Aperol Spritz rumstehen und erklären, was Trump nur für ein Trottel sei. Und dass man sich dann frage, ob man ihnen nun gratulieren solle zu der brillanten Analysefähigkeit. Schmidt hört genau hin, wenn die Menschen sprechen. Die Akademiker und Theaterfreunde. Wenn sie Sachen sagen wie »Da sehe ich mich nicht« oder »Da bin ich ganz bei dir«. Dann macht Schmidt sie nach, und alle wissen genau, wen er meint, und lachen vor Erleichterung.

Diese drei Herren, Waalkes, Barth, Schmidt, eint ihr Arbeitsethos, der unbedingte Wille zum Witz, der nicht gehemmt ist von einem sozialen Auftrag, von Angst vor Peinlichkeit, Moral, Hochmut oder Dünkel. Sie wollen unterhalten, liefern Pointe für Pointe, je mehr, desto besser. Und dann packen sie ein und gehen heim. Wie Fips Asmussen, 79, der auf seiner Tour (»Lachen bis der Arzt kommt«) den Lattenrost noch immer als Geschlechtskrankheit verkauft. Und ihm ist es so egal, wie klug sein Witz ist. Er kennt nur eine Währung: Lacher.

Dieses Arbeitsethos stirbt aus. Eigentlich müsste es Plakatkampagnen geben zur Rettung der Pointenproduktion. Denn der Humor, der nachkommt, will nicht mehr witzig sein. Er ist belehrend, moralisch, passiv-aggressiv, überheblich, gewollt politisch. Er ist ein Spiegel unserer Zeit. Denn seltsamerweise haben die Absurditäten des jüngeren Weltgeschehens nur dazu geführt, dass alle immer ernster und engagierter werden. Und selten komischer. Obwohl es doch in der Menschheitsgeschichte oft andersherum war: Je schlimmer die Lage, desto besser wurden die Pointen.

Auf Poetry-Slam-Bühnen, wo der Nachwuchs probt, kann man das Elend besichtigen: Man schaut da halb fertigen Studenten bei der Selbstfindung zu, man könnte sie auch beim Zähneputzen beobachten, das wäre spannender. Sie lesen mit gesenktem Kopf einen Text ab über Zweifel bei der Berufswahl oder ein kritisches Gedicht über Trumps Frisur. Mit eingestreuten Pointen über Bankangestellte und Heidi Klum. Und dabei betonen sie jede Silbe so SELT-SAM und schauen gequält wie eine Katze, der man Wachs auf die Nase tropft (nicht dass ich das schon mal gemacht hätte).

Ihr Idol treffen sie jeden Tag im Internet: Jan Böhmermann. Ein hyperaktiver Besserwisser in gutbürgerlicher Tradition, halb Sadist, halb Moralist, den man nur als Nachfolger von Harald Schmidt bezeichnen kann, wenn man es sehr gut meint mit Böhmermann und sehr schlecht mit Schmidt. Überhaupt Böhmermann, wie konnte das passieren? Wie konnte dieser Mann so weit kommen mit seiner wild gewordenen Tugendhaftigkeit? Wie ein Bademeister entscheidet er, was geht und was nicht. Witze über den Intellekt von Lukas Podolski? Geht. Macht Böhmermann. Lacher auf Kosten intellektuell Schwacher auf RTL? Geht nicht. Prangert Böhmermann also an.

Und weil er so ein guter Bademeister ist und den Diskurs aufmerksam bewacht mit seiner Trillerpfeife, bekommt er regelmäßig den Grimme-Preis verliehen, die Volkshochschul-Trophäe für bestes Besserwissen. Und einmal, als er nur dadaistisch albern war, anarchisch und pubertär, großartig lustig, da löste er eine Staatskrise aus. Und weil er sehr erschrak, als sich dann alle Scheinwerfer auf ihn drehten, musste er seinem Ziegenficker-Gedicht plötzlich jede Albernheit nehmen und ihm demokratischen Ernst verleihen, es umdeuten zu einem juristischen Proseminar über Meinungsfreiheit und Satire. Das Justemilieu klatschte. Was ein Genie!

Beinah ehrlicher ist da noch, wie das politische Kabarett offen langweilt und belehrt. Verzichtet es doch anders als Böhmermann weitestgehend auf Show-Attrappen wie Stand-up-Einlage, Band und shiny floor. Hier, das weiß der Zuschauer, gibt es Schwarzbrot, schwer zu kauen, aber gesund. Hier wird es so spaßig wie beim Wendlandonkel, der auf einer langen Fahrt in dem von Hundehaaren verdreckten VW-Bus mal ausführlich erklärt, wie er den Konflikt auf der Krim sieht und die mediale Hexenjagd auf Putin.

Die neue Generation des Kabaretts trägt Anzug statt Lehrerpulli wie Volker Pispers, jener zugewachsene Zausel, der über Jahrzehnte mit Kabarettpreisen überschüttet wurde für Thesen, die heutzutage jeder Pegida-Rentner überzeugender vertritt: Die USA sind eine Diktatur, die deutschen Medien sind gleichgeschaltet, und alle Parteien sind neoliberal. Und zwischendrin baute Vollbart-Volker Abstandshalter ein zu den kulturell Unberührbaren der Unterschicht, mit Witzen über das Dschungelcamp, wie sie heute Böhmermann macht. Nein, die neue Generation des Kabaretts klingt zwar ähnlich lehrerhaft, aber sie trägt Anzug, wie Max Uthoff von der Anstalt im ZDF. Der, so hoffnungslos ist die Lage, als Kabaretthoffnung bezeichnet wird.

Max Uthoff schreitet wie ein Lateinlehrer vor seinem Publikum auf und ab und versäumt es, immerhin 2,12 Millionen Menschen aufzumuntern, so viele sahen zuletztDie Anstalt. Er entscheidet sich für die deutsche Disziplin »Rechthaben und Rechtbekommen«. An einer Tafel zeigt Uthoff seinem Kabarett-Kollegen Claus von Wagner, der so etwas wie den liebenswürdigen Anstaltstrottel spielt, in welchen Gremien die EU undemokratisch ist. Bürokratie und so weiter. Was man eben so findet, wenn man bei Google »EU« und »Demokratiedefizit« eingibt.

In der Anstalt bezeichnet man die Revolution in der Ukraine als geheimes Werk amerikanischer Agenten und Senatoren, man setzt die große Koalition mit der SED gleich und die NSA mit der Stasi. Da fragt sich der Zuschauer natürlich, warum diese Kabarett-Hechte nicht alle Parteien, Unternehmen, Stiftungen, Universitäten und Autohäuser beraten. Wo sie doch einfach ALLES wissen: die wahren Hintergründe von Revolutionen, den Plan hinter dem Kapitalismus, die wirklichen Gründe der Flüchtlingskrise.

Doch recht zu haben reicht der Anstalt nicht. Sie will auch moralisch auf der richtigen Seite sein. Und lässt einen syrischen Flüchtlingschor auftreten. Was beklemmend ist. Aber nicht nur wegen der Schicksale der Syrer, sondern auch weil man als Zuschauer das Gefühl bekommt, dass der Chor allein der moralischen Aufladung der Sendung dient.

Wobei, Moral? Sie wird hier, wie oft im Kabarett, flexibel eingesetzt. Oder wie moralisch kann es sein, jungen Menschen, die bei der ukrainischen Revolution schwer verletzt oder gar getötet wurden, verächtlich hinterherzurufen, sie seien ja nur Marionetten der USA?

Flüchtlingschor, Flipchart, Diagramme, Zeigefinger. Man will doch unterhalten werden und nicht wieder in die Schule. Da wünscht man sich ganz schnell Fips Asmussen auf die Bühne, der von seiner Frau erzählt. Die nimmt nämlich ein Maßband mit ins Bett, um morgens zu wissen, wie tief sie geschlafen hat.

Je ernster die Lage wird, je mehr Elend die Nachrichten bestimmt, desto lauter werden jene, die immer von allem betroffen sind und bewegt, die sich dauerschockiert die Hand vor den Mund halten und gar nicht aufhören können, sich vom Schicksal der Welt berühren zu lassen. Was zwar komplett folgenlos ist, aber na ja. Jeder muss bereitstehen, notfalls ein politisches Statement abzugeben. Und wenn ihm nichts einfällt zwischen Mindestlohn, Diabetes und Kinderarmut, dann ist er eben »für die Liebe« und »gegen den Hass«. Selbst Joko und Klaas, die Albernen von ProSieben, die sich sonst mit Fußbällen in die Eier schießen, versenden inzwischen politische Botschaften oder sitzen bei Anne Will. Sie setzen dann ihr ernstes Gesicht auf, als habe sie der Lehrer ermahnt. Warum nicht, wenn schon politisch sein, dann auch gleichzeitig albern?

Wie die amerikanischen Late-Night-Shows. Jimmy Kimmel, Stephen Colbert, Jon Stewart. Je dunkler die Wolken am Himmel, desto lustiger werden sie. Beseelt vom eisernen Ethos der Pointenorientierung. Kritisch – aber niemals, niemals, niemals belehrend. Bei all dem Guten, was uns die Amerikaner gebracht haben, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit – ihr Showtalent haben sie nicht mit uns geteilt.

Irgendwann hat sich in Deutschland das Missverständnis durchgesetzt, man müsse etwas nur als politisch deklarieren, und schon sei man enthoben von der Pflicht zu unterhalten. Dieses Missverständnis führt einen, wenn es richtig gut läuft, zum Nobelpreis, wie es Günter Grass bewies, das schnauzbärtige Gewissen der Nation, dessen grauenhaft zähe Prosa gleichermaßen unlesbar und gefeiert ist. Oder sie führt einen auf die Kabarettbühne einer mittelgroßen Stadt. Dort bezeichnet man die dargebotene Pointenlosigkeit wahlweise als bissig, provokant, mutig, frech, hintersinnig oder abgründig. Der Zuschauer, der sich seine Jahresdosis Belehrung abholt, wagt nicht, sich gegen die brottrockene Langeweile aufzulehnen. Weil er ja auch nicht in der Kirche aufsteht und geht, wenn die Predigt schlecht ist.

Stattdessen regnet es akademischen Gesinnungsapplaus. Und falls das Publikum mal gar nicht klatscht und keine Miene verzieht, dann hat man es nicht gelangweilt. Nein! Man hat es, so sagt man im Kabarett, »zum Nachdenken angeregt«.

Harald Schmidt, der seine Fernsehkarriere längst beendet hat, antwortete neulich auf die Frage, auf welche Veranstaltungen er noch Lust habe: »Nichts Sozialkritisches in kalten Gegenden.« Denn Inhalte würden nur belasten. Er kenne in seinem Umfeld von Topentscheidern und Leistungsträgern überhaupt niemanden, der sich noch mit Inhalten beschäftige. Und dann verzog er sich wieder in seine Werkstatt. Dorthin, wo noch alte Pointen liegen aus einer Zeit vor dem großen Ernst.

Was sagt ein italienischer Kammerjäger, wenn er alle Kakerlaken vernichtet hat?

Schabe fertig.

Verräterische Sprache

Sprache ist verräterisch. Wer beispielsweise einen Attentäter, der mit einem Küchenmesser auf Passanten einsticht, als »Widerstandskämpfer« bezeichnen würde, der wäre umgehend als menschenverachtender Idiot entlarvt.

Sprache ist aber auch dann noch verräterisch, wenn sie eigentlich versucht, besonders neutral zu sein. Wer etwa das Wort »Zusammenstöße« nutzt und damit nicht Autounfälle an einer heiklen Kreuzung beschreibt, sondern das, was gerade in Jerusalem passiert, der sagt auch etwas über sich. » Zusammenstöße am Tempelberg« , das hört man oft in diesen Tagen, das melden Tagesschau und Deutschlandfunk. Zusammenstöße: Das klingt nach Autoscooter. Nach zwei schwer kontrollierbaren und ein bisschen irre gewordenen Parteien, die gleich viel oder wenig Schuld tragen an der Kollision. Wer dieses Wort benutzt, hält sich in sicherer Äquidistanz zu den Ereignissen, man bleibt damit den Konfliktparteien gleich nah und gleich fern.

Das ist nicht immer angemessen. Nehmen wir mal das, was Freitag vergangener Woche in Hamburg-Barmbek geschehen ist: Ein Terrorist schreit laut Augenzeugen»Allahu Akbar« und sticht auf Passanten ein, bis er von einigen Mutigen gestoppt wird. Wenn man das aus sicherer Äquidistanz beschreiben wollte, dann müsste man sagen: »Zusammenstöße auf der Fuhlsbüttler Straße. Auseinandersetzung zwischen Angreifer und mit Stühlen bewaffneten Anwohnern«. Das wäre natürlich kompletter Wahnsinn. Und es würde nicht zuletzt jene Helden beleidigen, die den Attentäter aufgehalten haben. Also sagt das keiner.

Wenn es aber um Terror in Israel geht, scheint Äquidistanz okay zu sein. So rief Sigmar Gabriel, der deutsche Außenminister, vor ein paar Tagen »alle Parteien« in Jerusalem auf, die Lage »nicht weiter anzuheizen«. Was im Angesicht der Geschehnisse merkwürdig unparteiisch klingt. Ging doch der neueste Wahnsinn vor drei Wochen los mit einem Mordanschlag. Drei arabische Terroristen töteten zwei israelische Polizisten am Tempelberg. Als Reaktion stellte Israel Metalldetektoren an den Eingängen des Tempelbergs auf, um Waffenschmuggel zu verhindern. Metalldetektoren, wie es sie an jedem Flughafen gibt und sie in Israel, dank islamistischen Terrors, leider zum Alltag gehören. Woraufhin der Leiter der Al-Aksa-Moschee die Sicherheitsvorkehrung als »Erniedrigung« bezeichnete. Andere empfanden sie gar als »Verletzung religiöser Gefühle«. Die palästinensische Fatah rief zu einem »Tag des Zorns« auf. Israel baute die Metalldetektoren zur Beruhigung der Lage wieder ab. Der Klügere gibt nach. Doch was passierte? Die Proteste gingen weiter. Vor dem Freitagsgebet, vergangene Woche, bewarf ein aufgebrachter Mob israelische Sicherheitskräfte mit Steinen.

Nun hätte der deutsche Außenminister fragen können, wie genau ein Metalldetektor religiöse Gefühle verletzt. Und ob das auch jene Detektoren können, die in Mekka stehen, an der heiligsten Wallfahrtsstätte der Muslime. Und was im Zweifel schlimmer ist: wenn religiöse Gefühle verletzt oder wenn Menschen getötet werden. Gabriel hätte die Palästinensische Autonomiebehörde dazu auffordern können, die Lage zu beruhigen und endlich den Märtyrerfonds einzustellen, mit dem Angehörige von Attentätern alimentiert werden. Was nicht weniger ist als ein permanenter Mordaufruf. Und er könnte prüfen lassen, ob deutsche Hilfsgelder antisemitische Hetze an palästinensischen Schulen finanzieren. Noch immer werden die Kinder dort unwissend gehalten mit Landkarten, auf denen Israel nicht existiert.

Schließlich hätte sich Gabriel fragen müssen, ob es den zornerfüllten Palästinensern am Tempelberg tatsächlich um die Beseitigung von Metalldetektoren geht. Oder nicht eher um die Beseitigung eines Staats. Einmal hätten wir beweisen können, was es praktisch bedeutet, dass die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson gehört.

Wenn aber schon Empathie und Wille fehlen, sich in die Lage eines Freundes zu versetzen, so müsste Deutschland wenigstens aus Egoismus an der Seite Israels stehen. Ist es doch der gleiche Feind, derselbe mit Lkw und Messern bewaffnete Wahnsinn, der uns in Europa bedroht. Zwar in geringerem Ausmaß. Aber mit ähnlicher Perfidie. Mit derselben Mischung aus Selbstgerechtigkeit, Männerkult und Blutrunst.

Es ist auch eine Frage der Sprache, wie wir mit dieser Bedrohung umgehen. Denn Sprache ist nicht nur verräterisch, sie gewährt uns auch die Möglichkeit zum Bekenntnis.

Ein Anschlag ist ein Anschlag. Terror ist Terror. Und Islamismus ist Islamismus. Egal ob er in Jerusalem wütet oder in Hamburg-Barmbek.

Die Jagd nach dem letzten Tabu

Ein merkwürdiges Wesen geht um in diesem Land. Manche meinen, es gesehen zu haben und zu wissen, wie es aussieht. Die Berichte derjenigen, die behaupten, Augenzeugen zu sein, unterscheiden sich, sie widersprechen sich gar. Es ist mit diesem Wesen wie mit dem Yeti, dem Schneemenschen aus dem Himalaya, zu dem es mehr Erzählungen gibt als Beweise: Es lebt fort durch Spekulation.

Das merkwürdige Wesen, das ich meine, heißt: »Das letzte Tabu«. Es wird gejagt von Journalisten und Sachbuchautoren. Immer wieder schreit jemand, mit feierlichem Entdeckerstolz: Ich hab es, schaut her.

In der taz ist zu lesen: Verzicht ist das letzte Tabu. Im Tagesspiegel steht, das letzte Tabu sei Inzest. Das letzte Tabu, so schreibt die Süddeutsche im Wirtschaftsteil, sei, dass sich die Schweizer Notenbank an der Wall Street einkaufe. In dieser Zeitung, derZEIT, wird die Sterbehilfe als letztes Tabu bezeichnet. Die Neue Zürcher Zeitunghingegen findet, der Darm sei das letzte Tabu – dieses merkwürdige Tabuwesen streift offenbar auch durch die Schweiz.

Die Jagd nach ihm ist zu einem regelrechten Business geworden. Henning Scherf, ehemaliger Politiker und Sachbuchautor, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel Das letzte Tabu. Das letzte Tabu sei der Tod, sagt Scherf. Auch Aldo Haesler, Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel Das letzte Tabu. Das letzte Tabu sei das Geld, sagt Haesler. Auch Wolfram Wette, Historiker, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel Das letzte Tabu. Das letzte Tabu sei die NS-Militärjustiz, sagt Wette. Und dann gibt es noch Andreas Schäfer, Lektor und Autor, der auch ein Buch geschrieben hat, das allerdings ganz anders heißt: Ein letztes Tabu – die übermächtige Frau.

Die Jagd nach dem letzten Tabu unterscheidet sich von der Suche nach dem Yeti in einem Punkt: Sie ist weniger erfolgreich. Vom Yeti gibt es immerhin einen Skalp, er lagert in einem buddhistischen Kloster in Nepal. Es gibt einen wissenschaftlichen Aufsatz in einem Fachjournal und die Berichte eines internationalen Forscherteams, das im Altai-Gebirge sehr verdächtige Fußspuren finden konnte. Vom letzten Tabu jedoch gibt es nichts als Behauptungen.

Wenn im Wörterbuch ein Tabu als etwas beschrieben wird, das in der Gesellschaft nicht an- und ausgesprochen wird, so stilisiert sich der Entdecker des letzten Tabus zum diskursiven Helden: Schaut her – ich spreche etwas an, von dem ihr nicht zu sprechen wagt; ich bezwinge das letzte große Thema, an das sich niemand traut. Doch spätestens wenn fünf Erstentdecker des letzten Tabus nebeneinanderstehen und sich ihre Behauptungen erheblich unterscheiden, dann wird man den Verdacht der Hochstapelei nicht los.

Der Tabu-Entdecker bedient sich einer rhetorischen Strategie, die im gesellschaftlichen Diskurs im Moment sehr en vogue ist: Man macht die anderen kleiner, um sich selbst größer erscheinen zu lassen. Man konstruiert Sprechverbote, um dem eigenen Sprechen etwas Martinlutherhaftes zu verleihen. Ähnlich geht auch vor, wer von sich behauptet, endlich mal, auch so eine Floskel mit Konjunktur, »Klartext« zu reden. Er unterstellt damit der Mehrheit, dass sie chiffriert und unaufrichtig spricht – und dass er und nur er der Auserwählte ist, um den Menschen endlich die Augen zu öffnen. Die Auserwählten enden dann entweder in der Fußgängerzone mit einer Bibel in der Hand oder, siehe Sarrazin, auf der Spiegel-Bestsellerliste.

Selbstverständlich gibt es in diesem Land Dinge, über die kaum bis gar nicht gesprochen wird. Aber nicht hinter jedem Schweigen lauert ein Tabu. Dass zum Beispiel kaum jemand diskutiert, ob die Erde nicht doch eine Scheibe ist, liegt wohl kaum an einem Sprechverbot – sondern an fortschreitender Vernunft.

Wobei es im Moment leider nicht auszuschließen ist, dass man erfolgreich wäre, würde man dieses Buch schreiben, eine schonungslose Abrechnung mit den Fakten der Wissenschaft: »Die Erde als Scheibe – das letzte große Tabu«.

Die neuen Hippies

Ich habe seit einiger Zeit das Gefühl, die Hippies sind zurück. Ich wollte erst nichts sagen. Weil ich nicht kleinlich und herzlos sein will. Und weil sie ja nicht stören. Aber na ja. Irgendwie stören sie doch.

Es begann mit Margot Käßmann. Als im letzten Jahr drei Islamisten in Brüssel 35 Menschen das Leben nahmen und über 300 verletzten, da sagte Margot Käßmann: Wir sollten versuchen, den Terroristen mit Liebe zu begegnen. Mir kam das seltsam vor. Als ich das Bild der Terroristen sah, diese blassen, leeren Gesichter, empfand ich – ja: Hass. Möglicherweise war es auch Ekel. Aber ich glaube eher, es war Hass.

Ich ging auf Twitter. Ich sah Fotos von Freunden und Kollegen, sie hatten rote Augen und hielten Gläser in der Hand. Jemand hatte, als Antwort auf den Terror, die Aktion #aufdieliebe gestartet. Sie bestand im Wesentlichen darin, dass man sich dabei fotografierte, wie man gerade einen Schnaps trank, einen »Sex on the Beach« oder ein Pils. Manche fotografierten auch einen Kussmund oder ein selbst gemaltes Herz. Tausende beteiligten sich, Medien berichteten.

Man war sich einig, dass jetzt, im Angesicht des Terrors, nicht der Hass gewinnen durfte. Die Liebe sollte gewinnen. Na ja, dachte ich. Liebt ihr ab jetzt auch euren Nachbarn, der nachts um drei Scooter hört? Liebt ihr den Busfahrer, der euch vor der Nase wegfährt, obwohl er euch sieht? Liebt ihr diese Typen, die ihr warmes Schnitzelbrötchen rausholen, sobald der ICE den Bahnhof verlässt? Ich weiß, dass es nicht okay ist. Aber ich hasse diese Typen mit den Schnitzelbrötchen. Fürs Protokoll: Ich würde selbstverständlich keine Gewalt anwenden. Auf dem Weg zum Mann mit dem Schnitzelbrötchen zivilisiere ich mich, und es folgt eine recht freundliche Frage.

Ein paar Monate später gründete eine deutsche Journalistin die Aktion »Organisierte Liebe«. Sie wollte dem Hass von AfD und Pegida begegnen, dem »organisierten Hass«, wie sie sagte. Als ginge es jetzt darum, in die letzte große Schlacht zu ziehen: Mittelerde gegen Mordor, Frodo gegen Sauron, Harry Potter gegen Lord Voldemort. Die fröhlich Liebenden gegen die hässlich Hassenden. Klingt das nicht ein bisschen nach Märchen?

In den USA vereinten sich die Gegner von Donald Trump hinter dem Wortspiel »Love trumps hate«. Was übersetzt so viel heißt wie: Liebe triumphiert über den Hass. Ich glaube, Donald Trump würde auch von sich behaupten, dass er liebt. Seine Tochter Ivanka zum Beispiel. Die Wochenenden in Florida. Und sich.

Die Liebe war plötzlich überall. Das Bundesfamilienministerium trommelte für eine Aktion gegen hate speech im Internet. In einer Zeitung hielt Manuela Schwesig ein Herz in der Hand. »No hate« stand darauf. Ich würde Manuela Schwesig gerne fragen, ob sie nicht auch manchmal hasst. Ob das überhaupt geht: ein Leben ohne Hass? Ich kann es mir nicht vorstellen. In Unternehmen, Ämtern, Redaktionen: Es gibt immer einen, der einen anderen hasst. Es ist nicht toll, aber es gehört dazu. Ich frage mich, was passiert, wenn man das leugnet.

Nach dem Anschlag am Breitscheidplatz sagte Michael Müller, der Regierende Bürgermeister von Berlin: »Hass kann und darf nicht unsere Antwort auf Hass sein.« Ich habe diesen Satz mehrmals gelesen, etwas störte mich. Er ist richtig. Aber er ist auch irgendwie falsch. Ist es nicht menschlich, Anis Amri, den Attentäter von Berlin, zu hassen? Und jene Arschlöcher, die an der Planung der Tat beteiligt waren? Ich denke, es ist okay, diese Menschen zu hassen. Es ist nur komplett falsch, jetzt Menschen zu hassen, die nichts dafür können. Merkel zum Beispiel. Oder Flüchtlinge.

Es ist ja nicht so, dass ich etwas gegen Liebe habe. Ich glaube nur, Liebe ist die falsche Kategorie, um dem Weltwahnsinn zu begegnen. Das Hippietum, das gilt für das neue wie das alte, ist letztlich unpolitisch: Statt zu differenzieren, begegnet es jeder Herausforderung mit dem kindlichen Wunsch nach Umarmung. Doch während sich die Liebenden zu einem bed-in unter der Daunendecke verkriechen wie einst Yoko Ono und John Lennon, demontieren die Wahnsinnigen unsere Demokratie.

Nur noch lieben, nie mehr hassen: Dieser Anspruch ist so groß, dass man an ihm scheitern muss. Warum versuchen wir es nicht eine Nummer kleiner? Mit mehr Empathie zum Beispiel. Und esst, verdammt noch mal, nie wieder Schnitzelbrötchen im ICE.

Lässiges Verlieren

Der Dienstwagen von Martin Schulz braucht kein Benzin. Er fährt aus Respekt. Martin Schulz bekommt bei Burger King einen Big Mac. Martin Schulz geht nach dir in die Drehtür und kommt vor dir raus. Wenn Martin Schulz auf einen Lego-Stein tritt, dann tut es nicht ihm weh. Sondern dem Lego-Stein.

Kaum zu glauben: Es gab mal eine Zeit, da kursierten im Internet schmeichelhafte Witze über Martin Schulz, den Kanzlerkandidaten der SPD. Sie alle handelten davon, dass Schulz allmächtig ist, irgendwas zwischen MacGyver und Jesus. Vier Monate sind diese Witze alt, drei Landtagswahlen hat die SPD seither verloren. Und weil jeder Witz normalerweise einen Funken Wahrheit in sich trägt, sind diese Witze nicht mehr lustig. Ihr Realitätsgehalt ist implodiert. Schulz, das hat er bewiesen, ist nicht allmächtig. Er muss jetzt im Willy-Brandt-Haus Niederlagen erklären. Er bekommt keinen Big Mac bei Burger King.

Der SPD-Witz ist wieder dort, wo er vor Schulz war. Geladen mit jenem volkstümlichen Spott über eine Verliererpartei, die im Pech badet. Der nichts gelingt, was auch immer sie tut. Der SPD-Witz ist wie ein Elfmeter ohne Torwart, Humor für Einsteiger: Jeder Trottel kann punkten. Genossen, das ist die Vergangenheitsform von Genießen, sagt die heute show , die Oase des deutschen Papahumors. Und, ach ja, kennste den: Was ist flüssiger als Wasser? Na, klar. Die SPD. Die ist überflüssig. Und wenn der fröhliche Onkel auf dem Familienfest nicht mehr weiterweiß, Bier in der Hand, dann stellt er fest, dass der SPD ja vielleicht in diesem Herbst das Projekt 18 gelingt, ne?

So unsympathisch und kleinkariert der deutsche Volkswitz seit Jahren die SPD verspottet, die älteste und stolzeste Partei des Landes, so sehr ist sie selbst schuld an ihrer Lachhaftigkeit. Sie ist, so sind die Fakten nun mal, gegenwärtig eine wenig attraktive Verliererpartei. Aber einsehen will sie das nicht. Sie jubelt stehend für Martin Schulz, wählt ihn mit 100 Prozent zum Vorsitzenden. Man schraubt ein bisschen am Programm: eine Spur sozialer, ein bisschen mehr Gerechtigkeit. Und auf geht’s ins Verderben.

Es ist wie mit dem HSV, dem anderen, traurigen Fossil: Man flüchtet sich in eine Melange aus Nostalgie und Realitätsverweigerung. Und dann stolpert man slapstickhaft von Wahl zu Wahl, von Saison zu Saison. Kommt irgendwie in die Regierung, bleibt irgendwie in der Liga. Ob man den HSV aus seinem Leid befreien kann, ist fraglich. Aber die SPD, die kann gerettet werden. Sie muss nur etwas wagen. Die Partei bräuchte eine vollkommen neue, frische Kampagne. Fernab von Grinseplakaten und leeren Parolen. Einen Viralhit, für den man sie feiert.

Sie sollte es machen wie Bayer Leverkusen. Über Jahre wurde der Verein von seinen Gegnern als »Werkself« verspottet, als Anhängsel eines Pharmakonzerns. Bis Leverkusen diese Bezeichnung auf seine Trikots druckte, in genialer Umlenkung des Begriffs. Oder sie macht es wie die heroischen Gezi-Demonstranten in Istanbul, die sich stolz Capulçu nannten, »Plünderer«, nachdem Erdoğan sie öffentlich so beschimpft hatte. So muss die SPD den Spott, der gegen sie gerichtet ist, aufnehmen und veredeln. Sie muss das Verlierer-Image ironisieren. Denn Selbstdistanz ist souverän. Und Souveränität ist attraktiv.

Wie lässig es zum Beispiel wäre, wenn Martin Schulz mit dem Nationaltrainer von San Marino, der noch nie ein Pflichtspiel gewonnen hat, in der Kabine über das Wiederaufstehen nach einer Niederlage sprechen würde. Und am Ende kicken sie ein bisschen, eins gegen eins. Und San Marino gewinnt. Oder man lässt Schulz nachts durch sein Haus laufen, auf einen Lego-Stein treten und fluchen. Dann die Einblendung: MARTIN SCHULZ, EINER VON UNS.

Das ist die gute Nachricht für alle Sozialdemokraten: Die Menschen lieben Verlierer – solange sie Humor haben, nicht wehleidig sind und die Realität anerkennen. SPD, Partei der lässigen Loser. Das wäre doch ein Anfang.

Über kurz oder lang

Mit Henning Sußebach

Henning Sußebach: Felix, ich glaube, ich habe Schiss.

Felix Dachsel: Hätte ich auch an deiner Stelle.

Sußebach: Gestern stand ich zu Hause vor dem Kleiderschrank und habe überlegt: Mein rotes Lieblingsshirt? Nein, Rot macht ihn aggressiv. Grün ist besser, Grün beruhigt.

Dachsel: Ich will dich nicht zu Matsch hauen. Das wäre ein echter Verlust für dieZEIT. Auf der anderen Seite – dann wäre eine Stelle frei.

Ring frei!

Eine düstere Turnhalle in Hamburg-St. Pauli. In der Mitte ein Boxring, fünf mal fünf Meter, darin zwei Männer, die sich in diesem Moment nicht mehr ganz sicher sind, ob sinnvoll ist, was sie gerade tun. Wir sind Redakteure der ZEIT, Büronachbarn auf derselben Etage. Eigentlich mögen wir uns: Dachsel, 2,04 Meter groß. Sußebach, 1,68 Meter klein. Begegnen wir uns auf dem Flur, nicken wir uns komplizenhaft zu. Na, Großer, wie läuft’s? – Alles gut, kleiner Mann. Es sieht lustig aus, wenn wir nebeneinanderstehen, das wissen wir. Wir weichen beide von der Norm ab (der deutsche Durchschnittsmann misst 1,81 Meter). Manchmal diskutieren wir, ob uns das geprägt hat. Ist Sußebach als kleiner Mann besonders ehrgeizig? Und Dachsel als großer ein bisschen schwerfällig?

Ursprünglich wollten wir auch für dieses Dossier nur reden. Über die Frage nachdenken, welche Bedeutung die Körpergröße in unserer weitgehend körperlosen Welt noch hat. Wir müssen keine Tiere mehr jagen, duellieren uns nicht mehr, auf der Arbeit steht heute meist Idee gegen Idee, Argument gegen Argument. Aber stimmt das? Einen Abend wollten wir durch die Stadt ziehen, wo Dachsel Türen zu niedrig sind und Sußebach Theken zu hoch. Da es um Körperlichkeit geht, schlug Sußebach zum Auftakt ein Kräftemessen vor: Paintball-Schießen. Dachsel hätte eine gute Trefferfläche abgegeben. Dachsel konterte mit Boxen. Sußebach sagte zu. Bloß nicht kneifen.

So stehen wir im Ring, an einem Freitagabend kurz vor Christi Himmelfahrt, auch bekannt als Vatertag, Tag des Testosterons – der Tag, an dem Männer ganz besonders zur Blamage neigen.

Unser Kampf soll über drei Runden gehen. Im Alltag kämpfen wir beide eher selten. Außer: mit zu langen Hosen, zu kurzen Hemdsärmeln, zu hohen Küchenschränken, zu tief hängenden Deckenlampen und den immer gleichen Sprüchen. Heute ist das anders. Von Verbrüderung bis Krankenhaus ist alles vorstellbar, Letzteres wahrscheinlicher. Von einer Trainingsstunde abgesehen, haben wir nie geboxt.

In der blauen Ecke: Sußebach, 45 Jahre, 67 Kilo leicht, in der Boxwelt ein Weltergewicht. In der roten Ecke: Dachsel, 30 Jahre, 106 Kilo schwer, Superschwergewicht.

Dachsel sieht Sußebach in seiner Ecke und denkt: Das ist ein verdammter Beißer. Der kommt mit Fahrradhelm ins Büro. Wenn er so kämpft, wie er arbeitet, wird er immer wieder angreifen, Schrittchen für Schrittchen, Schlägchen für Schlägchen. Eine Kollegin nennt ihn »Henningchen«, das hat er mir mal erzählt. Von hier oben kann ich auf seine Glatze gucken. Aber wenn ich ihm einmal mit Wucht auf den Kopf haue, müsste er k. o. sein.

Sußebach sieht Dachsel und denkt: Lehnt der nicht etwas zu selbstsicher an den Seilen? Ich werde ihn beschäftigen müssen, viel laufen, tänzeln. Einen Schlag in seinen Bauch und sofort wieder weg. Der Trainer hat gesagt, ich muss die Deckung oben lassen, bis Dachsel müde wird. Wird nicht lange dauern. Dachsel fährt mit der Vespa zur Arbeit, der macht keinen Meter zu viel. Seine Freunde nennen ihn »Flegmon«, wie dieses gemütliche pinke Pokémon.

Dann gibt der Ringrichter den Kampf frei. Tonbänder laufen, Freunde filmen.

Ortswechsel, Zeitsprung. Ein Burger-Restaurant. Vor dem Kampf hatten wir eine Mail über den Verteiler der ZEIT geschickt: Wer wird gewinnen? Und warum? Das Sekretariat hat die Antworten anonymisiert, ausgedruckt, in einen Umschlag gesteckt. Den öffnet Sußebach jetzt wie bei einer Preisverleihung.

Sußebach: Gibt’s nicht.

Dachsel: Was?

Sußebach: Fünf haben auf Unentschieden getippt. 20 auf dich. Und 37 auf mich.

Dachsel: Mitleid. Der schlichte Wunsch, dass der Kleinere gewinnt.

Sußebach: Weil die guten Geschichten immer so ausgehen.

Dachsel: Lass mal die Begründungen sehen.

»Dachsel gewinnt. Größere Reichweite. Mehr Wumms.«

Dachsel: Genau das setzt mich unter Druck.

»Dachsel wird es aufgrund der körperlichen Überlegenheit ruhiger angehen lassen und wahrscheinlich mit dem Gefühl in den Kampf gehen, einen Kollegen verletzen zu können. Wie im Schulsport, als die Jungs beim Fußball auch nicht die Mädchen weggrätschten.«

Dachsel: Das wurde mir als Kind eingebläut: Halt dich zurück! Mich hat früher sogar mal die Mutter eines anderen Kindes vor einem Fußballspiel gebeten, gegen ihren Sohn nicht so hart in den Zweikampf zu gehen.

Sußebach: Beim Boxtraining hast du tatsächlich nach jedem Treffer gesagt: »Oh, ’tschuldigung. Hat’s wehgetan?«

»Kopf schlägt Masse. Ich tippe auf das Fliegengewicht!«

»Henning gewinnt. Er wird es als kleiner Mann unbedingt beweisen wollen.«

»Henning gewinnt, weil die kleineren Menschen ja immer etwas flinker und fieser sind.«

»Dachsel ist zu weich.«

Dachsel: Merkst du was? Dem Großen wird Trägheit unterstellt.

Sußebach: Mir sagt man Fiesheit nach.

»Natürlich Henning. Weil kleine Männer nicht verlieren können.«

Sußebach: Da wüsste ich besonders gern, wer das geschrieben hat.

»Der Bär Felix wird gewinnen, weil er jede Armlänge hat, um sich den Terrier Henning vom Leib zu halten.«

Sußebach: Diese Tiervergleiche beschäftigen mich. Bei anderen äußerlichen Merkmalen, die Menschen so haben können, dünn und dick, schwarz und weiß, weiblich und männlich, ist das längst verpönt, totales Tabu. Wir aber leben nach wie vor in freier Wildbahn, Felix.

Dachsel: Vor sechs Jahren war ich Praktikant bei der ZEIT. Da trat auf dem Flur ein älterer Kollege an mich heran – und fragte mich: »Wie ist das als so ’n Riesenmann mit ’ner Frau im Bett? Sie begraben die doch total.« Ich hatte vorher nie mit dem geredet.

Sußebach: Hast du was geantwortet?

Dachsel: Nein. Im Nachhinein denke ich, ich hätte zurückfragen sollen: »Und wie ist das für Sie als fetter Mann?«

Sußebach: Mich hat mal ein Kollege in sein Büro gebeten, dem der Ton einer Reportage nicht gefiel. Und was sagt der? Ich würde ihn an Truman Capote erinnern: toller Autor und charakterlich defizitär – beides, weil klein und komplexbeladen.

1. Runde

Sußebach nähert sich mit kurzen, federnden Schritten, Dachsel steht wie ein Baum in der Ringmitte, holt aus, sieht zugleich einen schwarzen Fausthandschuh kommen, beugt sich zurück … Luftloch. Dachsel spielt mit der Zunge am Mundschutz, schiebt ihn vor, zurück. Ist das Provokation? Überschätzt er sich? Plötzlich macht er einen großen Schritt auf Sußebach zu, ein Schlag in Richtung Kopf, abgewehrt. Dachsel lässt die Fäuste hängen, als wolle er sagen: Komm, probier’s doch! Sußebach feuert drei Schläge ab, irgendwo hinein in diesen großen Menschen. Dachsel ist kaum zu verfehlen. Atmet er schwer? Wird er schon müde? Gegenangriff. Dachsel fährt seine Rechte aus, voll auf die Nase. Da war er, der Wumms. Sußebach hat öfter getroffen, Dachsel härter. Wer die erste Runde gewonnen hat, weiß nur der Ringrichter.

Wieder draußen, nicht mehr im Restaurant, sondern in den Straßen der Stadt; jeder von uns mit ein paar Blättern Archivmaterial in der Hand: internationale Studien, Größentabellen. Wir laufen zu den Hamburger Deichtorhallen. Dort wird an diesem Abend eine Fotoausstellung eröffnet – ein typisches Ereignis, bei dem Dachsel anderen den Blick verstellt und Sußebach nichts sieht.

Sußebach: Wann ist dir eigentlich bewusst geworden, dass du überdurchschnittlich groß bist?

Dachsel: Als mir die Klamotten zu klein waren, die ich von meinen älteren Brüdern bekommen habe. Ich dachte: Meine Brüder vererben mir Hochwasserhosen? Da stimmt was nicht. Bis heute mache ich, wenn ich einen Pullover oder ein Hemd kaufe, in der Umkleide heimlich den Freiheitsstatuen-Test: das Teil anziehen, dann den Arm hoch und gucken, bis wohin der Ärmel rutscht.

Sußebach: Wenn du dich auf dem Flur etwas selbstvergessen reckst, kann man deinen Bauchnabel sehen.

Dachsel: Ich kann auch keine Skinny Jeans tragen.

Sußebach: Ich keine Mäntel. Darin sehe ich aus wie ein Zwerg.

Dachsel: Bist du ja auch.

Sußebach: Mir geben die Änderungsschneider immer zentimeterweise Ärmel-Abschnitte mit. Ich habe eine Sammlung zu Hause, wie Pulswärmer.

Dachsel: Gab’s bei dir als Kind den einen Schlüsselmoment?

Sußebach: In der Grundschule ging’s. Da hatte ich einen Kinderarzt, der mich ständig lobte: »Du bist aber stark! Du hast ja tolle Muskeln!« Heute glaube ich, der wollte mich rechtzeitig starkreden. Auf dem Gymnasium kippte das, plötzlich waren alle größer. In der Fünften hat mich der Vater des damals größten Mädchens meiner Klasse mal gefragt: »Na, gehst du auch schon zur Schule?«

Dachsel: Oh. Du hast richtig gelitten.

Sußebach: Weiß nicht. Da ist bis heute ein seltsamer Zwiespalt. Ich selbst mag meinen Körper nämlich. Mir kommt es so vor, als sei er in seiner Kompaktheit unanfälliger, weniger wartungsaufwendig. Als habe er ein späteres Verfallsdatum.

Dachsel: Ein späteres Verfallsdatum?

Sußebach: Ich sehe selten kleine Männer mit vernachlässigtem Körper. Ich kenne mehr große zugewucherte oder aus dem Leim gegangene Schluffis. Von außen kriegt man trotzdem früh signalisiert, ein kleiner Körper sei ein Makel. Oft ist das nett gemeint. Oder tröstend. Mir haben Lehrer Klassenarbeiten übergeben mit dem Beisatz: »Klein, aber oho.« Oder: Als Kind bin ich gesegelt. Und als ich mal bei einer Regatta als Erster durchs Ziel fuhr, rief der Wettfahrtleiter durchs Megafon: »Henning, du bist zwar klein, aber ein großer Segler!« Ich habe tagelang über den Zusammenhang nachgedacht. Das ist doch so, als würde man sagen: Sie haben zwar dichte Augenbrauen, spielen aber trotzdem gut Schach.

Dachsel: Ich habe nie einen Tanzkurs besucht, weil ich ahnte, dass ich komisch aussehen würde. Und in der Pubertät, als ich so schnell gewachsen bin, habe ich mir andauernd irgendwelche Knochen gebrochen. Beim Skateboarden, beim Snowboarden, beim Fahrradfahren.

Sußebach: Das klingt, als sei einem großen Menschen sein Körper fremder als einem kleinen.

Dachsel: Ich denke nie, ich bin zu groß. Vielleicht ist das die Selbstherrlichkeit der Großen, die ich da habe. Ich denke eher: Warum seid ihr alle so klein? Warum muss ich mich immer runterbeugen? Warum muss ich so schreien, damit ihr da unten mich hört? Warum baut ihr so enge Flugzeuge? Eure Cafés haben minikleine Stühlchen und minikleine Tischchen. Ich stoße mir in eurem Miniaturwunderland andauernd die Knie. Oder den Kopf. An irgendwelchen Türrahmen und Lampenschirmen. Am schlimmsten ist es in Portugal und Italien. Urlaub in Holland ist super. Da leben die größten Menschen der Welt, da passe ich in die Betten.

Sußebach: Ich passe in wirklich jedes Bett. In jedem Hotel, in jedem Flugzeug denke ich: Super, dass ich klein bin.

Dachsel: Irre ist: Mein Selbstbild ist das eines Fürsten, der aufrecht durch die Lande schreitet. Wenn ich dann Fotos sehe, denke ich: Dieser schiefe Hals! Dieser krumme Rücken! Schrecklich.

Sußebach: Ich kann, wenn ich mit meinen Kindern im Hallenbad bin, noch einen halbwegs spektakulären Sprung vom Einer zwirbeln, während größere Väter nur Arschbomben machen – denke aber unter Wasser: Bestimmt tuscheln oben alle, der Furz muss was kompensieren.

Dachsel: Gab es Phasen in deinem Leben, in denen du dir besonders winzig vorkamst?

Sußebach: Klar. Heute würde ich sagen: Es hängt von Umfeld und Lebenssituation ab, wie sehr einem kleinen Mann seine Maße bewusst werden. In der Pubertät, als es um die Aufmerksamkeit der Mädels ging: nicht so einfach.

Dachsel: Wenn wir damals im Rudel unterwegs waren, paar Jungs, paar Mädchen, musste ich überhaupt nichts machen. Ich musste nichts Kluges sagen, ich konnte einfach rumstehen – am Ende hat immer eine gesagt: »Bringst du mich nach Hause? Du bist mein Bodyguard.«

Sußebach: Als ich später nach Berlin gezogen bin, Prenzlauer Berg, als junger Familienvater unter jungen Familienvätern, in dieser rot-grünen Akademikerblase: Da war das Thema weg! Seit meine Familie und ich in einem Hamburger Vorort leben, ist es wieder da.

Dachsel: Inwiefern?

Sußebach: Das Selbstverständnis einiger Männer da scheint anders zu sein. Die sind maskuliner. So Baumarkt-Kerls. Es gibt einen Nachbarn, der hat mich schon mal auf dem Kopf getätschelt. Auch interessant: Wir gehören dort zu den wenigen Familien mit nur einem Auto. Und das fährt meistens meine Frau. Als ich mir für kurze Zeit ein eigenes gekauft habe, einen Alfa, schwarz und schlicht, nicht weiter auffällig zwischen all den Audis und BMWs, da sagte einer der Zwei-Auto-Männer sofort: »Ach ja, kleine Männer und ihre Autos …« Wenn ein Durchschnittsmann diesen Alfa führe, würde sich wahrscheinlich niemand fragen, warum – dabei hat der womöglich größere Traumata als wir beide, bloß unsichtbare. Eine verkorkste Kindheit vielleicht. Oder 25 Allergien und 37 Phobien. Ich glaube übrigens, was für dich Holland ist, wäre für mich Brooklyn: In meiner Vorstellung laufen da lauter kleine, vergeistigte, fast körperlose Brillenträger rum.

Dachsel: Woody Allen. 1,65 Meter.

Sußebach: Wann stört das Großsein besonders?

Dachsel: Wenn ich bei Leuten zu Besuch bin, Gast auf einer Party, dann tragen die mir Arbeiten auf, die sie selber nicht erledigt kriegen. Lampen anschrauben. Was vom Regal holen. Glühbirnen wechseln. Ich bin dann deren Greifarm. Fühlt sich sehr gegenständlich an. Mich nervt manchmal auch, dass man als Großer schwer Demut signalisieren kann. Ich versuche zum Beispiel, Chefs gegenüber defensiv zu sein. Ich will keinen Stress mit ihnen, spüre aber, dass ich allein durch meine Größe offensiv wirke. Wenn’s bei mir im Büro zu Diskussionen kommt, bleibe ich bewusst sitzen.

Lange bevor der Mensch anfing, sich selbst zu vermessen, und Elle, Fuß und Meter ersann, erzählte die Länge eines Körpers eine kurze Geschichte über die jeweilige Person. Denn wie groß ein Mensch wird, hängt neben den Genen von der Ernährung ab. Und weil es über Jahrhunderte die Reichen und Mächtigen waren, die immer satt wurden, waren sie oft größer als Handlanger und Tagelöhner. Heute ist Unterernährung zumindest in den Industrieländern selten geworden, die Bedeutung von Größe als Symbol des sozialen Status blieb aber unterschwellig erhalten. Zwar sind die Zeiten, in denen die Krankenschwester den Chefarzt heiratete, längst vorbei, tun sich heute meist Männer und Frauen mit gleichem Bildungsniveau und ähnlichem Einkommen zusammen – aber was die Körpergröße angeht, heiraten Männer nach wie vor gern »nach unten« und Frauen »nach oben«, egal, wie emanzipiert sie sind. In Partnerschaftsagenturen gelten Männer unter 1,80 als schwer vermittelbar, unter 1,75 als Karteileichen. Größe scheint nach wie vor ein Kriterium zu sein, oft im Unterbewusstsein, manchmal bewusst inszeniert: Früher stand fast jeder Königsthron in Schlössern und Burgen auf einer Empore. Und heute sitzt die deutsche Kanzlerin im Bundestag auf dem größten Sessel der Kabinettsbank.

Sußebach: Ich habe auch nie von Alexander dem Kleinen gehört. Oder von ganz kleinem Tennis.

Dachsel faltet einen Zettel auf, darauf ein paar Wörter:

Kleingeistig, kleinkariert, kleinlich, kleinherzig.

Großartig, großzügig, großmütig, großherzig.

Dachsel: Allerdings gibt’s auch Wörter wie großmäulig und großkotzig. Mir ist noch was anderes aufgefallen: Charakterliche Zuschreibungen sind mit der Vorsilbe klein fast immer negativ belegt. Aber wenn’s um etwas Materielles geht, ist groß böse. Die Großbäckerei!

Sußebach: Der kleine Portugiese nebenan.

Dachsel: Der Großkonzern! Für uns Deutsche der Inbegriff des Bösen. Sobald was Großes physisch messbar ist, gilt das Underdog-Prinzip.

Sußebach: Als Großboxer fand ich dich übrigens auch unsympathisch.

2. Runde

Im Ring scheinen die Hemmungen gefallen zu sein. Sußebach hat Dachsel einen Kinnhaken verpasst. Wie, wissen wir beide nicht. Der Kleine hat Zutrauen in die eigene Größe gefunden, greift an, taucht weg, weicht aus – so, wie der Trainer gesagt hat: »Die Maus muss die Katze müde machen. Das ist ihre einzige Chance.« Bauchtreffer, Brusttreffer, Schläfe – die aber nur gewischt, weil zu weit weg. Dachsel, der Große, steht und schnauft. Auf seinem T-Shirt wächst ein Schweißfleck. Flegmon gegen Henningchen.

Wieder nähert sich der Kleine, aber der Große schlägt zuerst, trifft den Brustkorb. Sußebach japst, fängt sich, das war knapp. Noch dreißig Sekunden. Jetzt wieder Sußebach, kurz, schnell. Dachsel geht in die Seile, federt zurück in den Ring. Nach Aktivität liegt der Große hinten.

Sußebach: Schau mal, Felix. Ich habe zwei Listen dabei. Hier ist die erste.

Truman Capote 1,60

Nikita Chruschtschow 1,60

Francisco Franco 1,63

Fabian Hambüchen 1,63

Charlie Chaplin 1,65

Josef Stalin 1,65

Joseph Goebbels 1,65

Silvio Berlusconi 1,65

Napoleon Bonaparte 1,68

Henning 1,68

Adolf Eichmann 1,68

Winston Churchill 1,69

Benito Mussolini 1,69

Wladimir Putin 1,70

Helmut Schmidt 1,72

Adolf Hitler 1,75

Dachsel: Eine ganze Menge Kriegsverbrecher, Völkermörder und Spaßvögel. Wobei ich gelesen habe: Napoleon war für seine Zeit eher groß.

Sußebach: Wie klein ist eigentlich Kim Jong Un?

Dachsel: Habe ich heute Morgen nachgeguckt! 1,70. Größer als du.

Sußebach: Und trotzdem das größere Arschloch.

Dachsel: Aber erfolgreicher. Und in welchen Bundesländern, glaubst du, leben die kleinsten Männer?

Sußebach: Im Saarland?

Dachsel: Ja. Und in Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg.

Sußebach: Die Länder mit den höchsten Sympathiewerten …

Dachsel: Und wo leben die größten Männer?

Sußebach: In Niedersachsen?

Dachsel: Hamburg.

Sußebach: Das liegt an dir. Hier noch eine Liste.

Bill Clinton 1,88

Boris Becker 1,90

Thomas Gottschalk 1,92

Clint Eastwood 1,93

Helmut Kohl 1,93

Harald Schmidt 1,94

Zlatan Ibrahimović 1,95

Sky du Mont 1,96

Ulrich Wickert 1,96

Michael Groß 2,01

Felix 2,04

Henning Scherf 2,04

Florian Henckel von Donnersmarck 2,05

Dirk Nowitzki 2,13

Sußebach: Eher Supersportler und Oscar-Gewinner. Ich frage mich allerdings, ob beim Zusammenstellen dieser Liste nicht auch wieder selektive Wahrnehmung eine Rolle spielt.

Dachsel: Kann ich mir nicht vorstellen.

Sußebach: Rate mal, wer größer ist: Barack Obama oder Donald Trump?

Dachsel: Das habe ich auch schon mal gegoogelt. Trump ist 1,88, Obama nur 1,85.

Sußebach: Dabei wirkt Trump kleiner! Weil er dicker ist und schlechte Anzüge trägt?

Dachsel: Weil er ein Knilch ist, ein Kleingeist.

Sußebach: Das ist ein Ding, oder? Auch ich als Kleiner bin von diesen Zuschreibungen nicht frei. Zum Beispiel war mir Arjen Robben lange unsympathisch: dieses Getrippel, dieses Grimassieren – so ein Rumpelstilzchen. Man würde nie denken, dass der 1,80 Meter groß ist.

Dachsel: Gibt es eigentlich Solidarität unter kleinen Männern?

Sußebach: Ich fürchte, nein. Wenn ich einen Mann sehe, der kleiner ist als ich, bemerke ich das sofort. Und denke: »Spitze! Da ist mal einer, der kleiner ist.« Es kommt auch kein Kleiner zu mir und spricht das Thema an.

Dachsel: Ich finde verrückt, dass Gerhard Schröder – 1,74 – bei Fernsehinterviews immer auf so ein Podest gestiegen ist.

Sußebach: Sogar der große Ronaldo stellt sich beim Mannschaftsfoto auf die Zehenspitzen.

Dachsel: Aber Schröder! Der war Kanzler, mächtig, berühmt, attraktiv. Der hätte auch auf dem Boden sitzen und reden können. Aber nein, er stellt sich auf ein Podest.

Sußebach: Gibt es unter Großen größere Solidarität?

Dachsel: Wenn sich zwei sehr Große treffen, freuen sich beide, dass sich keiner beim Reden runterbeugen muss. Ich war mal auf einer Veranstaltung in Bremen, der ehemalige Bürgermeister Henning Scherf auf dem Podium. Nachher kam der zu mir, ohne dass wir uns kannten. Wir haben uns Rücken an Rücken gestellt, um die Größe abzugleichen, und dann übers Schuhekaufen geredet. Wir hatten sofort eine Ebene.

Sußebach: Und ich habe noch ein paar Studien.

Nur sieben der bislang 45 US-Präsidenten waren kleiner als der Durchschnittsamerikaner zu ihrer Regierungszeit. Bei Wahlen gewinnt in der Regel der größere Kandidat.

Dachsel: Dann hättest du vor 1880 vielleicht eine Chance gehabt. Damals, das habe ich nachgeguckt, war ein durchschnittlicher Deutscher so groß, wie du jetzt bist.

90 Prozent der CEOs der 500 weltweit umsatzstärksten Unternehmen sind überdurchschnittlich groß.

Sußebach: Das fällt mir auf Recherchen auf. In der Wirtschaft begegnet man oft so 1,90-Meter-Typen. Schmal, volles Haar, alle wie aus demselben Labor.

Kleine Menschen arbeiten überdurchschnittlich häufig in sozialen Berufen.

Laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung sind große Männer in Sachen Geldanlage spekulationsfreudiger als kleine: Mit der Körpergröße steigen Investitionssumme und finanzieller Wagemut.

Bis zu einer Größe von 1,91 steigt bei Männern das Gehalt. Danach fällt es wieder.

Dachsel: Das erkläre ich mir damit, dass man als Riese in einer Gehaltsverhandlung vielleicht eher bedrängend wirkt.

Amerikanischen Forschern zufolge haben große Männer in ihrem Leben ein bis drei Sexualpartner mehr als kleine.

Eine Studie mit 350 US-Offizieren hat ergeben: Die Männer unter 1,73 wurden später Vater und waren überdurchschnittlich treu. Ihre Scheidungsrate lag um 37 Prozent unter jener der großen.

Kleine Männer frieren fünf Grad früher als große.

Sußebach: Stimmt! Ich bin immer der Erste, der beim Grillen die Jacke anzieht.

Kleine Männer haben ein geringeres Krebsrisiko.

Dachsel: Weniger Zellen.

Kleine Männer haben ein größeres Risiko für hohen Blutdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Sußebach: Rumpelstilzchen halt.

Kleine Männer leben länger als große.

Mittlerweile haben wir die Deichtorhallen erreicht. Im Foyer der Fotoausstellung eine Menge Menschen, Lächeln und Gemurmel, klirrende Gläser. Hier ist man gut gelaunt und hübsch.

Sußebach: Ich muss was gestehen, Felix. Ich mag es, wie ein kleiner Fisch durch Menschenmengen in Bewegung zu gleiten. Aber stehende Massen machen mich gelegentlich leicht depressiv. Weihnachtsfeiern, Ausstellungseröffnungen, Branchentreffen, so was in der Art.

Dachsel: Weil du nur Schultern siehst?

Sußebach: Ich hab dann das Haifischlächeln Hunderter Männer auf Augenhöhe. Kinne, Zähne, Münder. Da kann niemand was für, aber in dieser Ballung bedrängt mich das. Meine Frau geht ungern mit mir auf Konzerte. Weil ich da irgendwann am Rand stehe.

Dachsel: An selbstbewussten Tagen betrete ich solche Veranstaltungen wie ein Eroberer.

Sußebach: Vermutlich hättest du Amerika auch einen Tag früher gesehen als Kolumbus.

Dachsel: Ich hätte es gar nicht nötig gehabt, Amerika zu entdecken.

Sußebach: Bestimmt war Kolumbus nur 1,23.

Dachsel: Höchstens.

Sußebach: Jedenfalls Italiener.

3. Runde

Im Ring beginnt der letzte Abschnitt – und etwas ist passiert. Sußebach greift nicht mehr an, tänzelt nur noch, aber nicht frech, eher furchtsam. Dachsel hingegen: wuchtig und entschlossen. Sußebach liest aus Dachsels Augen: Einen hau ich dir rein! Dachsel sieht in Sußebachs Augen: Angst. Der Kleinere müsste die größere Kondition haben, hat er auch, Dachsel schnauft, Sußebach ist still, Dachsel scheint zu wachsen, Sußebach zu schrumpfen. Dann kommt der Schlag, Dachsels Faust trifft Sußebachs Schläfe, der wankt wie ein Junge, der sich auf dem Spielplatz-Karussell zu lange zu schnell gedreht hat. Ein taumelnder Schritt, noch einer. Ich hab ihn, denkt Dachsel. Dann der Gong. Vorbei.

Am Ende des Abends hat es uns in eine Kneipe verschlagen. In der Luft Zigarettenrauch und Jukebox-Gedudel. Dachsel ordert ein großes Bier, Sußebach ein kleines.

Dachsel: Was war am Ende los mit dir?

Sußebach: Zu viel gegrübelt. Ich habe kapiert, dass ich in einer artfremden Situation war. Eigentlich bin ich ja konditioniert auf: kurz die Klappe aufreißen, dann weglaufen.

Dachsel: Hast du dich nie geprügelt in deinem Leben?

Sußebach: Ich weiß nicht mehr, worum es ging, aber ich habe einmal in einem Handgemenge einem Klassenkameraden die Nase blutig geschlagen. Der saß mit vollgetropftem T-Shirt im Sekretariat, ich stand erschrocken daneben. Aber was war in den Gesichtern der Lehrer? Respekt!

Dachsel: Mich hätten sie getadelt.

Sußebach: Du hast mir gerade auch einen auf den Solarplexus gegeben! Wenn ich tief einatme, knallt mir ein Stich in den Brustkorb.

Dachsel: Wenn du mich k. o. gehauen hättest – das hätten sich die Kollegen noch in zwanzig Jahren auf der Weihnachtsfeier erzählt.

Sußebach: Du hast dich nicht zum ersten Mal geschlagen, sei ehrlich.

Dachsel: Ist schon ein paarmal vorgekommen.

Sußebach: Das passt zu einer letzten Studie, die mich überrascht hat: Große Männer werden öfter körperlich angegriffen als kleine.

Dachsel: Man könnte meinen, bei mir gilt das Prinzip Frieden durch Abschreckung. Aber meine Alltagserfahrung ist: Wenn ich am Bahnhof ganz brav an einer Rolltreppe anstehe, stoßen die Kleinen mich mit dem Ellbogen weg. Die entwickeln so eine aggressive Selbstbehauptung. Als hätte ich sie angegangen.

Sußebach: Mir geht es auf Bahnhöfen so: Wann auch immer ich in einer Warteschlange anstehe, quer zur Hauptlaufrichtung, quetschen sich die Passanten garantiert bei mir durch. Wortlos. Wo ich bin, ist der Weg des geringsten Widerstands.

Dachsel: Würdest du sagen, das ist Diskriminierung?

Sußebach: Nein, eher nicht. Manche Bemerkungen tun weh, klar. Und wir beide sind sicherlich auch deshalb so, wie wir sind, weil du groß bist und ich klein bin. So wie andere aus irgendwelchen anderen Gründen sind, wie sie sind. Meistens habe ich aber einfach das Gefühl, als kleiner oder großer Mann schaut man täglich einer irren Natur-Doku zu. Ich glaube, ein Normalo merkt kaum, wie archaisch es auf der Welt nach wie vor zugeht, in Büros, in Warteschlangen, auf Bahnsteigen. Das ist natürlich wieder eine Arroganz-Falle, diese Ethnologen-Perspektive. Du bist gerade mal 23 Zentimeter über Normalmaß und ich 13 drunter, aber ich denke, wir beide bewegen uns bewusster durch den öffentlichen Raum als Durchschnittskerle. Wir denken mehr darüber nach, warum etwas so ist, wie es ist. Und wie wir wirken. Meine Frau sagt: zu viel!

Dachsel: Wie groß ist deine Frau?

Sußebach: Ich weiß es nicht genau. 1,62?

Dachsel: Habt ihr euch über eine Klein anzeige kennengelernt?

Sußebach: Och nee. Jetzt kommen die Zwergenwitze.

Dachsel: Wie heißt ein kleiner Türsteher?

Sußebach: Na, sag schon.

Dachsel: Sicherheitshalber. Und: Wenn du was trinken gehst, Henning …?

Sußebach: Ja?

Dachsel: Setzt du dich dann an die Minibar?

Sußebach: Oh, Gott. Und ich habe nichts gefunden! Im ganzen Internet: kein einziger guter Riesenwitz.

Dachsel: Eine Diskriminierung gibt’s natürlich wirklich.

Sußebach: Welche?

Dachsel: Man müsste mal überlegen, ob größeren Menschen nicht mehr Hartz IV oder Bafög zusteht – allein weil sie mehr essen müssen.

Sußebach: Wenn du das Fass aufmachst, kommen aber die Kleinen und sagen: Wer bezahlt dann das Umnähen meiner Hosenbeine? Und warum sind kleine Fahrräder genauso teuer wie große?

Dachsel: Weil’s halt aufwendiger ist, ein Fahrrad im Miniaturformat zu basteln als ein normales.

Sußebach: Wie groß wärst du gern, wenn du die Wahl hättest?

Dachsel: 1,95. Ich wäre groß, käme aber problemlos durch die Türen durch. Und du?

Sußebach: 1,75. Es wäre weniger offensichtlich, dass ich klein bin, aber ich bliebe kompakt.

Dachsel: Da kann man medizinisch was machen. Ich habe neulich eine Reportage über einen Mann gelesen, der seine Beine um acht Zentimeter hat strecken lassen. Der war übrigens größer als du, 1,69 Meter. Schon vor der Operation.

Das Urteil

Nach dem Gong ist es ganz still in der Turnhalle auf St. Pauli. Kein Turnschuhsohlen-Quietschen, nur noch unser Keuchen. Ein bisschen benommen stehen wir beide im Ring, schauen uns an. Haben wir uns gerade wirklich geschlagen?

Wortlos tritt der Ringrichter zwischen uns und umgreift unsere Handgelenke.

Dachsel spürt: Der Ringrichter hebt meine Faust!

Sußebach spürt: Der Ringrichter hebt meine Faust!

Unentschieden.

Dachsel: Eine rein pädagogische Entscheidung, er wollte dir deine Würde lassen.

Sußebach: Du bist und bleibst ein Großkotz.

Dachsel: Und du willst immer das letzte Wort haben.

Melancholiker der Macht

Es gab mal einen Bundesminister von der CSU. Es kann gut sein, dass Sie ihn vergessen haben. Er hieß Michael Glos, genannt Michel, ein großer Franke mit einer sehr tiefen Stimme. Er war Wirtschaftsminister von 2005 bis 2009.

Michel Glos strahlte etwas aus, das sympathisch war und schützenswert. Er wirkte abwesend und vollkommen desinteressiert an der Macht. Er trottete herum wie ein trauriger Eisbär, hineingestolpert in das Amt. Die Opposition beschimpfte ihn als Schlaftablette, doch das prallte an Michel Glos ab. Er wusste ja selber, dass da etwas nicht stimmte. Auf ihn folgte – fieser Kontrast – ein juveniles Supertalent, Karl-Theodor zu Guttenberg.

Man würde Glos in diesen Tagen gerne nach Südfrankreich schicken, Boule spielen mit François Hollande. Ein paar Pastis trinken, aufs Meer gucken. Zwei Melancholiker der Macht, das könnte passen. Hollande hat seit Sonntag frei. Sein Land wird jetzt von einem Hochbegabten regiert, Emmanuel Macron, der ein blütenweißes Privatleben hat, aus dem Stand Molière zitieren kann, perfekt Klavier spielt und besser Englisch spricht als der amerikanische Präsident. Dann würden sie dort stehen auf der staubigen Bahn, der Michel und der François, mit weißen Leinenhosen an, die Kugeln in der Hand drehend, erlöst von der Macht. Dann könnten sie erzählen, wie sie da reingeraten sind.

Bei seiner letzter Rede als Präsident fiel Hollande ein letztes Mal auf, weil er sich versprach. Statt »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, les crimes de lèse-humanité,redete er von »Verbrechen der Majestätsbeleidigung«, les crimes de lèse-majesté.Sein Nachfolger stand mit vorgerecktem Kinn neben ihm und lächelte gütig.

Es gibt Menschen, die sagen, dass Hollande einer der schlechtesten Präsidenten war, die Frankreich je hatte. Man erinnert sich tatsächlich an wenig, was von seiner Präsidentschaft bleiben wird. Vielleicht an diese Bilder aus Closer, einer Klatschzeitung. Wie der französische Präsident nachts vermummt auf einen Motorroller steigt, um zu seiner Geliebten zu fahren. Zu Julie Gayet, der Schauspielerin. Und es sah weder lässig aus, wie er dort aus dem Präsidentenpalast stapfte, noch männlich. Sondern seltsam schwermütig. Mit übergroßem Helm auf dem Kopf, ganz in Schwarz, sah der Präsident aus wie ein Insekt.

Oder das Foto von seiner Kasachstan-Reise: François Hollande mit Trachtenmantel und Pelzmütze. Neben ihm, in gewöhnlichem Anzug, als habe er seinen Gast reingelegt, Nursultan Nasarbajew, der kasachische Präsident. Hollande macht dieses regungslose Überforderungsgesicht. Wie ein Mann, dem sein Leben passiert. Ärger auf der Arbeit, der Streit zu Hause. Mehr Beobachter als Akteur.

Wie Bill Murray in Lost in Translation, jenem sagenhaften Film von Sofia Coppola, der aus Frankreich sein könnte, wäre er nicht aus Hollywood, denn Melancholie ist ein französisches Talent. Da sitzt der Held, ein in die Jahre gekommener Schauspieler, allein an einer Hotelbar in Tokyo, er lässt sich im Pool treiben, sitzt verloren auf seinem Bett. Ganz befreit von irdischem Streben, umhüllt von Transzendenz und Trauer. Bis er eine Seelenfreundschaft schließt mit einem Menschen, der ähnlich verloren ist wie er. Ähnlich scheu.

Von Willy Brandt ist überliefert, dass er sich als Kanzler manchmal tagsüber im Bett verkroch, bis der Chef des Kanzleramts anklopfte und sagte: »Willy, wir müssen regieren.« Depression als Machtverweigerung, das war tragisch. Aber es ist auch liebenswert.

Der Melancholiker ist so besonders, weil er unabhängiger ist als andere. Geld und Macht treiben ihn nicht an, sondern belasten ihn, Gut möglich, dass er mehr weiß vom Jenseits. Dass er eine Ahnung hat von Gott. Wenn man dem Melancholiker entgegenhält, dass die Zeit der alten, weißen Männer vorbei sei, dann zuckt er mit den Schultern und sagt: Okay. Und dann denkt er: Na endlich.

Schönen Ruhestand, Monsieur Hollande. Ich werde Sie vermissen.

Deutsche Selbstgerechtigkeit

Wenn Griechenland pleitegeht, Italien neu wählt, die Türkei in der Autokratie versinkt; wenn es um uns herum brenzlig wird, dann melden sich die deutschen Besserwisser. An guten Tagen klingen sie wie Sozialarbeiter, an schlechten wie hochmütige Streber.

Sie klingen wie Jens Spahn, CDU. Er forderte alle Deutschtürken mit zwei Pässen auf, sich zu entscheiden, welchem Staat und welchem Präsidenten ihre Loyalität gelte. Klar, Herr Spahn. Weil wir in diesem Land – das hat sich bewährt – täglich auf unsere Fahne schwören. Weil die Schulkinder am Morgen in der Aula stehen und fröhlich schreien: »Mein Präsident heißt Frank-Walter Steinmeier!«

Oder Sonia Mikich, einst bekennende Marxistin, heute Chefredakteurin des Westdeutschen Rundfunks. Sie forderte nach dem Referendum, dass Deutschtürken jetzt ihren deutschen Pass abgeben sollen, falls sie für die Todesstrafe sind. Denn: Zusammenleben in Deutschland heiße, das »Grundgesetz hochzuhalten«. Sie habe da, sagt sie, keine Lust mehr zu streiten. Schade eigentlich, dass sie nicht streiten mag. Sonst könnte man sie fragen, ob das für alle Bürger gilt. Auch für Deutsche ohne türkische Wurzeln.

Laut einer Umfrage des Allensbacher Instituts von 2014 findet ein Viertel der Deutschen die Todesstrafe »grundsätzlich richtig«. Das sind ein paar Millionen Menschen. Wo sollen die nur hin, Frau Mikich, wenn wir ihnen den Pass abnehmen? Im Deutschen Herbst, während der Entführung von Hanns Martin Schleyer, waren fast siebzig Prozent der Deutschen für die Todesstrafe. Da hatte dieses Land nur einen Bruchteil des Terrors erlitten, den die Türkei gegenwärtig zu ertragen hat; von islamistischen Attacken auf Flughäfen bis hin zu Bomben in Einkaufsmeilen und Nachtclubs.

Man könnte angesichts dieser Zahlen zu dem Schluss kommen, dass die Sehnsucht nach Drakon ein menschliches Phänomen ist, nicht ein türkisches. Man könnte fragen, was den deutschen Wutbürger, der mit einem Galgen durch Dresden marschiert und die Todesstrafe für Kinderschänder fordert, mit dem schnaubenden Anatolier verbindet, der Oppositionelle durch das Hinterland jagt. Man könnte den Mut junger Menschen bemerken, die trotz Lebensgefahr immer wieder auf die Straßen Istanbuls gehen, als unbezwingbare Demokraten. Und hoffen, dass wir ähnlich mutig wären, wenn es in Deutschland so weit ist. Aber nein. Halten wir lieber das Grundgesetz hoch! Fordern wir Bekenntnisse! Entziehen wir Pässe!

Neulich sprach sich der Schriftsteller Feridun Zaimoğlu in dieser Zeitung gegen den Doppelpass aus. Er kam mit fünf Jahren nach Deutschland und ist inzwischen super integriert. Man könne nicht »zwei Herren dienen«, schrieb er. Da gehe es um Gerechtigkeit. Wer hier geboren ist, der habe ja auch keinen Doppelpass. Es gilt offenbar, was Deniz Yücel mal so treffend beschrieb: »Was ich nicht habe, soll auch sonst keiner haben. Wenn ich schlechten Sex habe, soll sich auch sonst niemand amüsieren. Wenn ich nur einen Pass besitze, sollen die Ausländer gefälligst auch keinen zweiten haben. Gerechtigkeit ist, wenn es allen scheiße geht.«

Der deutsche Streber steht für Gerechtigkeit, für Selbstgerechtigkeit. Er greift, in Anbetracht der türkischen Misere, in die Wortschublade »Mittelmeerraum«. Dorthin, wo er auch Sätze bereithält für Griechen, Italiener und Portugiesen. Für jene verhaltensauffälligen Lümmel von der letzten Bank, die andauernd den Betrieb aufhalten. »Griechenland muss seine Hausaufgaben machen«, sagte Wolfgang Schäuble 2010. »Italien muss seine Hausaufgaben machen«, sagte Schäuble 2011. »Zypern muss seine Hausaufgaben machen«, sagte Schäuble 2013.

Und wenn der Mittelmeerraum zu uns kommt, als Kriegsflüchtling aus Syrien, dann schauen wir ihm über die Schulter, während er seine Hausaufgaben macht – und schimpfen notfalls auch! Julia Klöckner, CDU, schlägt Bußgelder für alle Flüchtlinge vor, die sich nicht integrieren.

Der deutsche Hang zu Strebertum und Übererfüllung ist nervig, wenn er sich in Fragen von Demokratie, Finanzen und Staatswesen zeigt. Dass er auch gefährlich sein kann, hat unsere Geschichte bewiesen. Warum vertrauen wir nicht Winston Churchill? Der sagte mal: »Die meisten sind bereit zu lernen, aber nur die wenigsten, sich belehren zu lassen.«

Sein Traum

Vor der Küste von Long Island, New York, eine Zugstunde von Manhattan entfernt, liegen zwei Inseln im Ozean.

Die eine Insel ist kaum bewohnt, sie ist wild und schlank und siebzehn Meilen lang. Sie ist die Vergangenheit von Roy Lester. In guten Momenten erinnert sie ihn an Heldentaten und in schlechten an Enttäuschungen und Schmerz. Die andere Insel ist auch schlank, aber ein bisschen langweilig. Neun Meilen lang, bewohnt. Der Wind ist schwächer dort, die Wellen sind kleiner. Man hört das Brummen der Flugzeuge, die auf dem Kennedy-Flughafen landen. Schulbusse fahren durch kurze Straßen. Flaggen wehen an bunten Häusern: rot, blau, weiß. Bei Dunkin’ Donuts gibt es Rabatt. Diese Insel ist die Gegenwart von Roy Lester.

Wenn der Sommer beginnt, wird Roy an diesem Strand sitzen. Jedes Wochenende. Atlantic Beach. Sun & Surf Beachclub. Ein Strand für Kinder und alte Menschen. Niedrige Wellen, kaum Strömung. Er wird sie aus dem Wasser ziehen, seine Haare werden trocken bleiben. Er nennt das »Pfützenhüpfen«. Was hat ihn hierher gebracht? Ein Stück Stoff, sagt die Strandverwaltung. Meine Prinzipien, sagt Roy Lester. Ich bin so stolz auf ihn, sagt seine Frau.

Man muss sich, um Roy Lester zu verstehen, einen Moment mit der Frage befassen, wie es sich für einen Mann anfühlt, in einer sehr knappen Badehose über den Strand zu spazieren. So knapp, dass sie keinen Zentimeter der Oberschenkel verdeckt, nur zwei Drittel der Pobacken und schwerlich jedes Schamhaar.

Es fühlt sich okay an, solange die Oberschenkel gebräunt sind, solange der Bauch trainiert ist und der Hintern straff. Also eigentlich nie. Wobei man unterscheiden muss: Es gibt Männer, denen es egal ist, wenn ihr Hintern aus der Badehose hängt. Sie setzen nicht auf das Konzept der angemessenen Bedecktheit. Sie tragen lebenslang das knappste Modell; budgie smugglers, den Wellensittich-Schmuggler. Zu diesen Männern gehört Roy Lester nicht. Er ist ein radikaler Vertreter der Gegenposition.

Er fährt nicht oft in seine Vergangenheit. Aber nun ist Roy über die Brücke gefahren. Mal sehen, wie sich das anfühlt. Roy Lester, 66 Jahre alt, Triathlet, Konkursanwalt mit eigener Kanzlei. Er hat sich eine Weste angezogen, er steigt aus seinem Ford, es ist noch Winter. Er steht auf einem Parkplatz, vor einem leeren Strand, dem besten der Welt, das ist seine Vergangenheit. Möwen landen. Die Wellen brechen lautstark, sie sacken ein, sie schäumen. Die Wellen sind wütend. Wütend. Roy würde dieses Wort nicht benutzen. Er spricht vom Ozean, als sei der ein Freund mit Eigenheiten. Nicht immer leicht, aber ein wirklich guter Kerl.

Eine Träne läuft quer über seine Wange, sie verschwindet in seinem Bart. Roy geht einmal um die Hütte, das ist die Hütte der Könige. Der Braungebrannten. Der Harten. Der Lässigen. Der Lifeguards von Jones Beach. Roy war einer von ihnen, 39 Jahre lang. Als er anfing, war Lyndon B. Johnson Präsident, John Lennon frisch verheiratet und noch nie ein Mensch auf dem Mond. Roy arbeitete jedes Sommerwochenende, Mai bis September. Auf dem Hochstand sitzen, beobachten, warten. In den Pausen Situps und Kartenspielen mit den Freunden. Roy Lester hat Hunderte Menschen gerettet. Dann flog er raus. Weg hier, schnell weg. Er setzt sich in seinen Ford, löst die Handbremse, kurbelt am Lenkrad. Hat sich Roy Lester verrannt?

Am 17. Mai 2007, zehn Uhr morgens, ein regnerischer Tag, parkt Roy Lester sein Auto vor einer Schule auf Long Island, Nassau Community College. Roy Lester ist zu diesem Zeitpunkt 57 Jahre alt. Im Kofferraum hat er eine Tasche, in der ist ein Stück Stoff, Polyamid und Elasthan. Chlorresistent, reißfest. Seine Badehose. Er trägt dieses Modell, seit er vierzig ist, mit vierzig hört man auf, jung zu sein. Es sieht aus wie eine Radlerhose. Es liegt eng an und bedeckt die Oberschenkel. In dieser Badehose fühlt sich Roy Lester wohl.

Lester nimmt seine Tasche und geht in die Schwimmhalle. Er muss in weniger als 80 Sekunden 90 Meter schwimmen, er muss ein paar Runden über einen Parkplatz rennen, dann wird ihn die Verwaltung von Jones Beach wieder als Bademeister einstellen. Für Untrainierte ist das nicht schaffbar, für Trainierte ist das hart, für Roy ist das eine Formsache. Jedes Jahr macht er diesen Test, jedes Jahr besteht er ihn. Jeden Sommer darf er zurück nach Jones Beach. »Ich könnte diesen Test in einer Latzhose bestehen«, sagt Roy.

Er weiß, was vor ihm liegt. Der Sprung vom Startblock. Die erste Runde wird leicht sein, Adrenalin schießt durch den Körper. Dann die Wende. Er wird sich großartig fühlen, er hat den ganzen Winter trainiert. Die zweite Runde: mehr Luft. Anfeuerungsrufe. Wasser im Ohr. Noch 45 Meter. Bei der dritten Runde werden die Arme schwer, sie kommen kaum aus dem Wasser. Wende. Noch 20 Meter. Die Lunge brennt, die Arme erlahmen. Gedanken kreisen: Hätte ich mehr schlafen sollen? Ein paar Meter noch. Kopf aus dem Wasser. Er wird auf die Anzeigetafel gucken und sich gut fühlen. Diesmal besteht Roy Lester den Test nicht. Er tritt gar nicht erst an.

Ihn hält eine neue Regel auf. Erlassen vom New Yorker Amt für Parks, Erholung und Denkmalpflege, untersagt sie allen männlichen Bewerbern, beim Einstellungstest eine Badehose zu tragen, die ihnen einen Vorteil verschaffen könnte, weil sie den Wasserwiderstand reduziert. Um teilnehmen zu dürfen, müsste Roy eine dieser knappen Hosen anziehen. Einen Wellensittich-Schmuggler. Nur für den Test, nur ein paar Minuten. Niemals, sagt Roy. Er nimmt seine Tasche und geht.

Am 10. Juni 2007, acht Uhr morgens, an einem Sonntag, parkt Roy sein Auto vor dem West Bathhouse Pool, Long Island, New York. Er will es noch mal versuchen, er hat eine Idee. Er will einen Wellensittich-Schmuggler über seiner Badehose tragen, als Kompromiss zwischen Würde und Gesetz.

Er zieht sich um, streift die kurze über die lange Hose und geht zu Susan Giuliani, einer strengen Frau mit blauen Augen, Direktorin des Jones Beach State Park, sie hat hier das Sagen. Aber sie akzeptiert seinen Kompromiss nicht. An diesem Tag entscheidet sich Roy Lester, das New Yorker Amt für Parks, Erholung und Denkmalpflege zu verklagen. Er lässt sich nicht vertreiben, er will zurück ins Paradies.

Das Paradies ist zehn Kilometer lang, eine Barriere-Insel, das Filetstück von New York. Dünen. Heller Sand. Eine lange Straße mit vier Spuren und Meerblick, der Ocean Parkway. Im August, wenn die Hitze Manhattan überfällt, kommt die ganze Stadt nach Jones Beach. Verliebte. Familien. Geschäftsleute. Es kommen jene, die den Ozean lieben. Ihn aber nicht respektieren. Die nicht wissen, wie man eine Welle nimmt. Seitlich, rechter Arm voraus. Die keine Ahnung haben, was ein Brandungsrückstrom ist. Die wild paddeln und keuchen, wenn die Strömung an ihnen zerrt.

Amateure wissen nicht, dass sie Amateure sind. Das ist das Problem. Roy erkennt Amateure, er braucht Sekunden. Und er kennt das Meer: Die Strömungen wandern, Sand wirbelt auf, das Wasser verfärbt sich. Ein guter Lifeguard sieht die Gefahr, bevor sie entsteht. Er sitzt auf dem Hochstand, Fernglas in der Hand, er stößt Luft durch seine Trillerpfeife. Weg da, raus aus dem Wasser. Oft reicht ein Handzeichen. Und wenn ein Handzeichen nicht reicht, dann beginnt die Show: Er springt in den Sand, Staubwolke, er greift zur Boje, sprintet. Er ist mindestens so cool wie David Hasselhoff in Baywatch. Nur, na ja: ein bisschen älter.

Es ist so besonders, Lifeguard am Jones Beach zu sein, dass niemand damit aufhören will. Ed Peters, geboren 1943, Robert Lenti, geboren 1947, Steve Levy, geboren 1959, sie alle wollen das Recht auf ewigen Sommer. Es gibt einen Film über sie, er heißt Jones Beach Boys. In einer Szene erzählt einer der Guards, wie er sein Gebiss im Wasser verlor und nach ihm tauchen musste.

Man kann beim Anblick eines Rettungsschwimmers im Seniorenalter ein komisches Gefühl bekommen. Doch die Zahlen sprechen gegen das Gefühl: Die Lifeguards von Jones Beach gehören zu den erfolgreichsten des Landes. Sie werden Jahr für Jahr hart geprüft. Wer einmal durch den Test fällt, ist für immer gesperrt. Hinzu kommt, dass ein Lifeguard nicht nur schnell sein muss. Er muss auch gut beobachten können, er braucht Erfahrung. Da sind die Alten oft besser als die Jungen. Am 13. Juni 2007, drei Tage nachdem Roy eine kurze Badehose über eine lange Badehose zog, geht beim Staat New York, Abteilung für Menschenrechte, ein Beschwerdeschreiben ein, Fallnummer 10118514.

Ich, Roy J. Lester, wohnhaft Long Beach, NY 11561, klage oben genannten Antragsgegner, residierend im Empire State Plaza Agency Building 1, 20. Stockwerk, Albany, NY 12238, aufgrund einer ungesetzlichen und diskriminierenden Praxis an. Die Diskriminierung fand am 10. Juni 2007 statt.

Roy verbringt einen schmerzvollen Sommer abseits von Jones Beach, den ersten seit Jahrzehnten. Er steht in Gerichtssälen und verteidigt arme Teufel, sie können ihre Kreditschulden nicht bezahlen oder ihre Miete. Abends geht er in die Garage, er packt sein Surfbrett auf den Fahrradanhänger und fährt an einen anderen Strand.

Ein Jahr später, am 8. Juni 2008, erscheint er ein weiteres Mal beim Einstellungstest. Roy hat seine Badehose aus Elasthan und Polyamid im Gepäck. In der Schwimmhalle beobachtet er, wie jüngere Bewerber Shorts tragen; lange, weite, kurze, bunte. Er macht Fotos für die Akte, Beweismittel 32. Die Jungen dürfen starten, er nicht. Hätte er nicht einfach, nur für den Test, nur ein paar Minuten, diese dumme Badehose anziehen können? Hätte Rosa Parks, die Bürgerrechtlerin, sich nicht einfach nach hinten setzen können damals im Bus?, fragt Roy. Altersdiskriminierung geht uns alle an, sagt er. Wir werden alle alt.

In der Hütte am Jones Beach kleben die Lifeguards einen Sticker auf Roys Foto, sie schreiben zwei Wörter drauf. IM EXIL. Roy sitzt in seiner Kanzlei und liest Akten. Auf dem Fensterbrett stehen Pokale und Fotos von damals. Jones Beach, 1976. Gebräunte Männer machen eine Pyramide im Sand. Die Akte »Lester gegen den Staat New York« wächst. Roy sammelt Beweise, führt Befragungen durch, schreibt Briefe. Einmal, als ihn eine Zeitung anruft, es rufen viele Zeitungen an, da sagt Roy: »Jedem Mann über fünfzig sollte es gesetzlich verboten sein, eine knappe Badehose zu tragen.« Man sollte sein Gesicht sehen, wenn er solche Sätze sagt: wie er ironisierend die Augenbraue hebt.

Zwei Jahre dauert es, bis er wieder Menschen rettet. Na ja, »rettet«. Er hat einen Wochenendjob angenommen an einem privaten Strand. Die langweilige Insel, Atlantic Beach. Die Kollegen sind sehr jung und sehen gut aus. Sie sind okay. Der Job ist nicht schlecht. Roy sitzt im Sand, zwischen Kindern und Rentnern, und träumt sich auf die wilde Insel: Jones Beach.

Am 8. August 2013 gibt Steve Levy, geboren am 31. März 1959, als Lifeguard für den Staat New York mit Unterbrechungen tätig von 1977 bis 2010, vor einem Notar zu Protokoll, er habe beim Einstellungstest erlebt, wie älteren Bewerbern verwehrt wurde, den Startblock zu benutzen. Es sei für ihn keine Frage, dass die Badehosen-Regel von 2007 ein Versuch gewesen sei, ältere Lifeguards loszuwerden.

Am 11. September 2013 sagt Robert Lenti, geboren am 27. Januar 1947, vor einem Notar aus, er habe in den vierzig Jahren, die er als Lifeguard auf Long Island gearbeitet habe, mehrmals die Erfahrung von Altersdiskriminierung gemacht. Ein Vertreter der Verwaltung habe ältere Lifeguards als »Schnecken« und den betreffenden Strandabschnitt als »Jurassic Park« bezeichnet.

Am 12. September 2013 sagt Ed Peters, geboren 1943, Chef-Lifeguard auf Feld 6, Jones Beach, vor einem Notar aus, die Diskriminierung älterer Kollegen gehe auf die frühen siebziger Jahre zurück, als die Verwaltung erfolglos versucht habe, eine Altersgrenze von 35 Jahren einzuführen. Er könne nicht verstehen, warum die Verwaltung es Roy Lester nicht gestattete, lange Badehosen zu tragen.

Am selben Tag gibt Michele Henschel, Geschäftsführerin der Sportbekleidungsfirma TYR Sport, vor einem Notar zu Protokoll, sie habe in der vergangenen Saison 70 539 lange Badehosen verkauft und 12 798 kurze. Gerade im Sportbereich seien die langen sehr beliebt.

Am 14. September 2012 wird Roy Lester von Rachel C. Anello befragt, Assistentin des Generalstaatsanwalts von New York. »Lassen Sie mich auf den letzten Zeitungsartikel Bezug nehmen. Erste Seite, fünfter Absatz von unten, da sagen Sie, Zitat: ›Ältere Menschen bevorzugen eine zurückhaltendere Bade mode, und Gott sei Dank tun sie das. Da gibt’s diese Sache, die man Altern nennt, und diese Sache, die man würdevolles Altern nennt.‹ Stammt dieses Statement von Ihnen?«

»Wahrscheinlich.«

»Also geht es in diesem Rechtsstreit eigentlich um angenehme Badekleidung?«

»Absolut. Das habe ich von Anfang an gesagt. Warum sollte ich, als Lifeguard mit vierzig Jahren Erfahrung, als bundesweit gerankter Athlet, als Mann, der zahlreiche Artikel über Lifeguarding geschrieben hat, gezwungen werden, ein dürftiges kleines Höschen zu tragen, nachdem ich mich jahrelang mit einer normalen Badehose qualifiziert habe? Warum muss ich das? Weil der Staat New York die alten Jungs loswerden will, das ist der einzige Grund.«

Die Akte »Lester gegen den Staat New York« ist inzwischen 1285 Seiten dick, der Rechtsstreit geht in das zehnte Jahr. Roy bereitet sich auf einen Triathlon vor. Er fährt mit dem Fahrrad um die Insel. Er steht regelmäßig um sechs Uhr auf, um schwimmen zu gehen. Er bringt seinen drei Kindern bei, dass es wichtig ist, für Prinzipien einzustehen. Ob im Rechtsstreit mit der Stadtverwaltung oder im Widerstand gegen einen durchgeknallten Präsidenten. Er ist stolz auf seine Kinder, sie gehen neuerdings auf Demonstrationen. Im April beginnt der entscheidende Prozess, vielleicht fällt das Urteil noch vor der Badesaison. Wenn Roy ihn gewinnt, darf er als Lifeguard zurück nach Jones Beach. Er ist dann 67.

Autoritäre Jammerlappen

Was muss das für eine Enttäuschung sein für alle, die auf einen starken Mann gewartet hatten: Die Autoritären sind zurück – und es zeigt sich, sie sind nicht mehr als ein Haufen eingeschnappter Heulsusen.

In der Türkei regiert ein rotköpfiges Rumpelstilzchen, das Menschen bestrafen lässt, die Ayran beleidigen, sein Lieblingsgetränk. In den USA hat ein Mann die Macht übernommen, der behauptet, sein Vorgänger habe ihn durch eine Mikrowelle abgehört. In Polen fürchtet sich die rechte Regierung vor Radfahrern und Vegetariern. Und in Frankreich, Deutschland und den Niederlanden gewinnen Parteien an Zuspruch, die sich von Journalisten verfolgt und von Denkverboten beschränkt sehen. Wobei man wirklich mal sagen muss: Niemand verbietet euch das Denken. Fangt doch einfach mal damit an.

Was würde Ernst Jünger über diesen Trupp sagen? Der Schriftsteller und Offizier, der einst die Weimarer Republik bekämpfte, als Denker der Konservativen Revolution, der jeden Morgen ein eiskaltes Bad nahm, um das Soldatische zu bewahren. »Elende Warmduscher!«, würde er sagen. Denn, so schrieb Ernst Jünger mal: »Nicht wofür wir kämpfen, ist das Wesentliche, sondern wie wir kämpfen.«

Was macht, zum Beispiel, Frauke Petry, nachdem sie in einem Interview gefordert hat, man solle an der Grenze notfalls auf Flüchtlinge schießen, und ihr dann, wie zu erwarten war, ein dicker Scheißesturm entgegenschlägt? Sie beklagt sich. Die Zeitung habe sie »verkürzt und sinnentstellt« wiedergegeben. Nicht mal zur eigenen Brutalität kann diese Frau stehen. Sie will um jeden Preis ein Opfer sein. Böse Medien. Gemeines Establishment. Fiese Systemparteien.

Klar: Es ist nicht so, dass man sich als Anhänger der liberalen Demokratie eine Rechte wünscht, die todesmutig marschiert. Aber man fragt sich schon, wie das auf irgendwen attraktiv wirken kann: diese herrschsüchtigen Figuren, zersetzt von Labilität und Wehleidigkeit.

Wo Ernst Jünger einst stoisch im Schützengraben lag, winden sich heute die Rechten in der Wutecke. In der Hauptstadt der Bewegung, der Jammer-Metropole Dresden, beklagt sich das graugesichtige Verbitterungsmilieu über fast alles: Rente, Flüchtlinge, Wetter. »Lerne leiden, ohne zu klagen«, hieß es im alten Preußen. Die neuen Autoritären haben diese Maxime längst umgedreht: »Lerne klagen, ohne zu leiden.«

Das verbindet die Pegidisten mit den Trumpisten, die Anhänger Erdoğans mit den Fans der AfD: Sie alle glauben, man würde sie unterdrücken und sie kämen andauernd zu kurz. Sie sind und bleiben Opfer, selbst wenn sie das mächtigste Amt der Welt ausüben wie Donald Trump. Sie sind nicht nur schlechte Verlierer, sie sind auch schlechte Gewinner.

Es scheint fast so, als seien sie süchtig nach dem Gefühl der Benachteiligung. Als wollten sie andauernd verletzt sein. Pegida behauptet, der Islam würde Europa unterdrücken. Erdoğan behauptet, Europa würde den Islam unterdrücken. Und Trump findet es sehr, sehr unfair, dass Vanity Fair die Fritten im Trump Grill nicht mag. Es ist der reinste Kindergarten.

Tayyip, du Wutknubbel. Frauke. Donald. Heult bitte leiser. Wenn ihr schon Unheil anrichten wollt, dann steht zu euren Taten. Ihr müsst ja nicht eiskalt baden wie Ernst Jünger.

Aber ein bisschen Haltung annehmen, das wäre schon gut.

Was will uns Beyoncé mit diesem Bild sagen?

Gute Nachrichten aus den USA: Beyoncé Knowles ist schwanger, der größte Popstar unserer Zeit. Sie erwartet Zwillinge. Und wie jene anderen Nachrichten, die in diesen Tagen den Atlantik überqueren, die schlechten, die apokalyptischen, begleitet auch diese Botschaft etwas Biblisches. Beyoncé hätte die Neuigkeit über ihre Sprecherin verbreiten lassen können, ein paar Zeilen. Aber sie ist der größte Popstar unserer Zeit.

Und so verkündet Beyoncé ihre Schwangerschaft auf Instagram mit einem inszenierten Foto, das an ein Heiligenbild erinnert. Als stünde sie davor, uns einen Messias zu schenken. Oder gleich zwei. Und darunter schreibt sie nicht etwa: »Hey Leute, wir erwarten Zwillinge und sind überglücklich.« Nein, sie schreibt: »Wir möchten unsere Liebe und Freude mit euch teilen. Wir wurden zweifach gesegnet.« Das vorneweg: Es ist das erfolgreichste Bild, seit es Instagram gibt. Fast zehn Millionen Menschen haben es bisher gelikt. Schon deshalb wird es in die Geschichte der Popkultur eingehen. Schon deshalb sollte man es gesehen haben.

Von diesem Bild geht eine seltsame Kraft aus. Es ist nicht nur gut, was der Betrachter fühlt. Es ist auch ein bisschen bedrückend. Als gebe es eine zweite Ebene, die es zu entschlüsseln gilt. Wie in den Selbstporträts von Frida Kahlo; der leidenschaftlichen, leidenden Malerin aus Mexiko. Was ist das Leid der Beyoncé Knowles? Eine Ehe, deren Bestand öffentlich angezweifelt wird? Die Melancholie des liberalen Amerikas? Dieses Bild flüstert.

Der Himmel ist blau. Es könnte der Himmel einer Fototapete sein oder der in Houston, Texas. Der Geburtsstadt von Beyoncé Knowles. Man kennt diesen Himmel aus Filmen: trockener Boden, ein Windrad dreht sich am Ölförderturm. Darüber die blassblaue Ewigkeit. Es ist jene Art von Stille, die einen vermuten lässt, dass gleich etwas passiert. Im Zentrum kniet Beyoncé vor einem Kranz aus Rosen und Farn. Was ist das für ein Gesteck? Es würde auf einem Ehrengrab nicht auffallen oder an Thanksgiving vor dem Altar. Auf den zweiten Blick erinnert es an einen Márquez-Roman, an jene tropische Fruchtbarkeit, an diese nasse Hitze, durch die seine Figuren andauernd ihrem Schicksal entgegengehen. Je länger man guckt, desto mehr vermisst man eine Schlange.

Ein Rätsel ist der Schleier. Er bewegt sich unverortbar zwischen einem Hochzeits- und einem Trauerschleier. Er ist nicht weiß, er ist nicht schwarz. Er ist lindgrün. Leichter zu lesen ist die Haltung des rechten Arms. Die Hand am runden Bauch, stützend, knapp oberhalb der Scham: wie Demi Moore, die sich 1991 schwanger für Vanity Fairfotografieren ließ. Moore begründete damit das Genre des modern maternity portrait . Ein Genre, in dem sich später Taylor Swift, Alicia Keys und Anne Hathaway betätigten und das mit der knienden Beyoncé seinen vorläufigen Höhepunkt findet. Sie hat mit diesem Bild ein Kunstwerk geschaffen, es ist das Zeugnis genialer Selbstinszenierung. So könnte man es sagen. Es gibt aber noch eine andere Lesart.

Als Beyoncé vor sechs Jahren mit ihrem ersten Kind schwanger war, unterstellten ihr nicht wenige, sie täusche ihre Schwangerschaft nur vor, sie habe sich eine Bauchprothese umgeschnallt und lasse ihr Kind in Wahrheit von einer Leihmutter austragen. Sogenannte Experten analysierten Fernsehbilder, als zerlegten sie einen Touchdown beim Super-Bowl. Standbild, Zeitlupe. Vor und zurück. Fällt ihr Bauch nicht seltsam ein, wenn sie sich setzt? Und es waren nicht nur Klatschblätter, die spekulierten. Es waren auch ABC News und ein Blog der Washington Post . Beyoncés Schwangerschaft wurde zum Gegenstand kollektiver Detektivarbeit. Und sie war plötzlich in der Beweispflicht. Sie wurde gejagt, wie so viele vor ihr.

Es ist sicher nicht lustig, prominent und schwanger zu sein. Wie es auch sicher nicht lustig ist, prominent und nicht schwanger zu sein, obwohl man eigentlich schwanger sein könnte. Immerzu wird auf den Bauch gestarrt, jede Erhebung vermessen, diskutiert und angezweifelt. »Wölbt sich da etwas?«, fragen deutsche Klatschblätter mit Vorliebe. Man muss diese Frage mal googeln, Hunderte Ergebnisse, es ist absurd. Und wenn die zu Inspizierende mal etwas Weites trägt, dann wird spekuliert, was sie »zu verstecken« hat. Dieses Mal macht Beyoncé Knowles den ersten Schritt, sie hat sich für Vorwärtsverteidigung entschieden.

Da habt ihr euren Bauch! Mit Blumengesteck! Und Schleier! Vor blauem Himmel! Und jetzt lasst mich in Frieden.

Dieses Bild flüstert nicht, es schreit.

Männerfreundschaft

Das Wort »Männerfreundschaft« hat einen seltsamen Beiklang; als sei die Freundschaft zwischen zwei Männern nicht bloße Freundschaft, sondern etwas typologisch Eigenes, das man separat zu behandeln hat – wie Männerkrankheiten.

Es klingt, als hätte ein Hamburger Verlag ein neues Spartenmagazin gegründet, »Männer. Freundschaft.«, ein Heft über warme Pullover und herbes Bier. Oder wie ein Buch von Til Schweiger: Männerfreundschaft! Mit einem Vorwort von Heiner Lauterbach. Die Männerfreundschaft tritt in den meisten Fällen als »echte« oder »wahre« Männerfreundschaft auf. Man stützt dieses Wort mit Attributen, als leide es unter einer angeborenen Schwäche.

Die Männerfreundschaft war fast schon dem Untergang geweiht, beinah ein Relikt jener Zeiten, als noch Kohl und Mitterrand Händchen hielten und Schröder und Chirac mit Pils anstießen, sie war ins Feld der Ironie überführt wie der »Damenbesuch«. Jetzt aber ist die Männerfreundschaft zurück.

Denn bei allem, was ungewiss ist beim Ausblick auf das neue Jahr, eines ist sicher: Es wird geprägt werden von zwei Männern – und ihren Gefühlen zueinander. Donald Trump und Wladimir Putin. Sie werden auf offener Bühne ein Lehrstück aufführen mit dem Untertitel »Wohl und Wehe einer Männerfreundschaft«. Ein Stück über Zärtlichkeit, Ehre und Stolz.

Schon kursieren im Internet Fotomontagen der beiden: Sie reiten auf einem Pferd durch die russische Steppe, oberkörperfrei. Wladimir hält die Zügel, Donald greift an seine Hüfte. Es kursiert das Werk eines litauischen Künstlers, das die Präsidenten beim Bruderkuss zeigt, mit Zunge. Amerikanische Medien wittern eine »Bromance«, eine Romanze unter Brüdern.

Trump sagt über Putin: Er ist eine sehr starke Führungspersönlichkeit. Putin sagt über Trump: Er ist brillant und talentiert. Trump twittert: Ich wusste schon immer, dass er ziemlich schlau ist. Sie umtänzeln sich ungelenk – sie sind noch in der Anbahnungsphase.

Und es hat, bei aller berechtigten Besorgnis, ja auch etwas Rührendes: Wie sich diese Männer annähern, in all ihrer Verletzlichkeit und Schwäche; der Austausch der Nettigkeiten, im Wunsch nach gegenseitiger Anerkennung. Wie sie sich einreihen in eine männliche Tradition der sentimentalen Umständlichkeit.

In seinem Buch Raumpatrouille beschreibt Matthias Brandt, wie sein Vater, Willy Brandt, einmal eine Fahrradtour mit Herbert Wehner zu unternehmen versuchte, um einen vorangegangenen Streit beizulegen. Statt einfach zu reden und sich des gegenseitigen Respekts zu versichern, stiegen sie also auf die Räder und fuhren los. Willy Brandt kam, weil er ein schlechter Radfahrer war, nicht weit und fiel in ein Gemüsebeet. Herbert Wehner fuhr erst monologisierend weiter und stand dann hilflos vor dem gestürzten Kanzler. Sie hätten es einfacher haben können.

Denn wenn die Blockaden gelöst sind und die Berührungsängste überwunden, dann folgt oft: pure Euphorie. Die Männerfreundschaft als ewiges Ferienlager. Wie einst bei Goethe und Schiller. Als Konkurrenten gestartet, machten sie sich später ständig gegenseitig Geschenke; sie schrieben Schmähgedichte auf ihre Kritiker, und nachts bei Schillers lachten sie so laut, dass Frau Schiller nicht schlafen konnte. Oder wie bei Franz Kafka und seinem Freund Max Brod, die sich beinah täglich sahen, als seien sie ein Paar: der eine gesellig, der andere isoliert. Wie bei David Foster Wallace und Jonathan Franzen: Sie waren sich nicht nur Freunde, sondern »beste Kumpel und Kombattanten«, wie Wallace es nannte. Oder wie bei Udo Lindenberg und Benjamin von Stuckrad-Barre, die Turteltauben an der Alster. Sie nennen sich liebevoll »Udo« und »Stuckiman« und tragen, zum Zeichen der Verbundenheit, die gleichen grünen Socken.

Die Männerfreundschaft sieht der Verliebtheit oft zum Verwechseln ähnlich. Das ist das Rührende, das ist das Gefährliche an ihr. Denn aus enttäuschter Verliebtheit kann Zorn werden und aus Zorn Gewalt. Wie wird die Bromanze von Donald und Wladimir enden?

Es gibt grob zwei Möglichkeiten. Erstens: auf dem Schneemobil durch Kamtschatka, Burger grillen in Texas, ziemlich beste Freunde. Und die Welt muss ihre Streiche ertragen. Zweitens: narzisstische Kränkung, Bruch, Rosenkrieg.

Man kann sich kaum entscheiden, welche Möglichkeit man schlechter finden soll.

Für Zlatan

Ich weiß nicht, wie oft ich mir dieses Tor schon angesehen habe, Zlatan. Es wirkt bei mir wie ein Gebet: Ich schau es an und schöpfe neue Hoffnung. Der Ball kommt aus Eurer Hälfte. Er fliegt. Du sprintest, Du siehst den Ball in der Luft. Der Ball fliegt und fliegt. Der Torwart stürmt aus dem Strafraum. Hat er Angst? Du stoppst. Der Torwart köpft den Ball weg, viel zu schwach, kleiner Bogen. Du drehst Dich, Rücken zum Tor, 25 Meter Entfernung. Du lässt Deinen Körper nach hinten kippen, Fallrückzieher. Du triffst den Ball, liegst quer in Luft. Taekwondo: das linke Bein angewinkelt, das rechte gestreckt. Diesen Moment habe ich Dir zu verdanken, Zlatan Ibrahimović, dem schwedischen Fußballspieler mit kroatisch-bosnischen Wurzeln.

Ich bin gerade in Malmö, Deiner Stadt, Zlatan, in der Du aufgewachsen bist. Es ist wie eine Wallfahrt. Ich gehe durch die Straßen und frage nach Dir. Für die einen bist Du ein König. Für die anderen bist Du ein Gott. Ich gehe die Amiralsgatan hinunter, die große Straße Richtung Süden, stadtauswärts. Dorthin, wo es angefangen hat. Die Häuser werden größer und grau. Friends Grill, Falafel Bagdad, Orient Food. Ich habe gelesen, dass der Stadtteil Rosengård gefährlich sei: Islamismus, Jugendbanden, Arbeitslosigkeit. Jetzt stehe ich hier, am Cronmans väg, wo Du als Kind gelebt hast. Und weißt Du, Zlatan, was passiert? Ich sage das Codewort, und Deine Nachbarn von früher lachen fröhlich. Zlatan, sagen sie, yes: the king.

Damals, 14. November 2012, Schweden gegen England, erste Minute der Nachspielzeit: Was hast Du gedacht, als der Ball diesen Bogen machte? Als Du gesprintet bist, der Torwart köpfte? Was hast Du gedacht, als Du am Boden lagst? Als das Stadion leise wurde, für eine Schweigesekunde staunender Ungläubigkeit. Hast Du es Dir selbst geglaubt? Wenn ein solches Tor möglich ist, dann ist fast alles möglich. Das dachte ich.

Ich gehe unter den Gleisen durch, Rosengård. Wie der Asphalt vibriert, wenn ein Güterzug kommt, wie sich die Bäume biegen. Auf die Brücke haben sie einen Deiner Sprüche gepinselt: Du kannst den Jungen aus Rosengård holen, aber Rosengård nicht aus dem Jungen. Ich stehe neben Deinem ehemaligen Hartplatz, hier fing es an. Drei Jungs halten den Ball hoch, sie verbeugen sich, der Ball ist in der Luft, er fällt ihnen abwechselnd in den Nacken. Sie wollen sein wie Du.

Ich habe Dir einen Brief geschrieben, Zlatan, habe mit Deinem Verein telefoniert, mit Vertretern der Premier League, habe Deinem Biografen geschrieben. Ich wollte Dich treffen, es hat nicht funktioniert. Ich verstehe das: Du hast keine Zeit, Du musst Tore schießen, Du tust es auch für mich.

Wenn es mir schlecht geht, tief im Menschlichen verheddert, im Alltag verrannt, wenn ich die Gardinen an meinen Wohnungsfenstern schließe, wenn ich nicht aus weiß und nicht ein, dann schaue ich mir Dein Tor an, Zlatan: wie Du in der Luft liegst, eine schwebende Skulptur. Du hättest einfach schießen können, Gesicht zum Tor, Vollspann, ein sicherer Schuss. Stattdessen drehst Du Dich. Du drehst Dich vom Tor weg.

Ich bewundere Deine Furchtlosigkeit und Deine Stärke. Damals in der Schule gab es diese Mädchen mit den Armbändern und dem darauf eingestickten Spruch: What would Jesus do? Wenn ich nicht weiterweiß, wenn ich weglaufen, aufgeben, einknicken, mich verstecken will, dann frage ich mich manchmal: What would Zlatan do? Und dann denke ich: Zlatan würde aufstehen, er würde weitermachen, er würde kämpfen. Du bist ein Vorbild ungetrübter Männlichkeit, Zlatan.

Cronmans väg, dort oben in der dritten Etage hast Du mal gewohnt. Hier unten hast Du auf dem Hartplatz gekickt, mit dreizehn, vierzehn, ein Riese mit der Technik von Ronaldinho. Ich ziehe meine Jacke aus und spiele auf dem Platz bei den Jugendlichen mit, zwei gegen zwei. Sie sind jünger und schneller als ich. Sie sind besser. Sie tricksen, als steuerten sie ihre Beine mit einem Playstation-Controller, sie schlenzen den Ball, vor und zurück, rechts, links. Übersteiger, Rabona, Körpertäuschung. Das wilde Spiel. Ich stolpere, laufe ins Leere. Wir machen eine Pause. Sie lehnen am Zaun. Wir rauchen, und sie bekommen, als ich Deinen Namen sage, kaum ein Wort raus vor Zuneigung.

Wie Du Dich vom Tor weggedreht hast damals, England gegen Schweden. In vollem Wissen, dass diese Drehung schiefgehen, dass der Ball im Seitenaus landen kann oder auf dem Stadiondach. Der Weg zum Glück führt übers Risiko, das hast Du gezeigt. Dein Weg führte Dich weg aus Rosengård. Großer Junge, große Nase, großes Maul. Weg von Deiner Mutter, die für Dich putzen ging. Weg vom Vater, der trank. Weg aus Malmö, weg aus Schweden, Du hast Europa erobert, Ajax Amsterdam, Juventus Turin, Inter Mailand, FC Barcelona, AC Mailand, Paris Saint-Germain. Jetzt Manchester United. In 170 Spielen 152 Tore: Fallrückzieher, Freistoß, Seitfallzieher, Tunnel, Hacke, Kopf. Es gibt Menschen, die behaupten, dass Du ein Söldner seist. Es gibt Menschen, die sagen, Du seist arrogant. Als Du Paris verließest für einen besseren Vertrag bei Manchester United, da hast Du gesagt: Ich kam als König und gehe als Legende. Zlatan, ehrlich: Wie lange hast Du nachgedacht für diesen Spruch?

Ich gehe den Bennets väg runter, am Schwimmbad vorbei. Haben sie Dir nicht hier Dein erstes Fahrrad geklaut? Fido Dido, Dein BMX. Hast Du hier beschlossen, dass Du selbst klauen willst? Stehlen oder bestohlen werden, angreifen oder angegriffen werden, handeln oder behandelt werden: Ich will mich entscheiden können wie Du.

Du bist kein Söldner, Quatsch. Du ziehst nur weiter, wenn es so weit ist, Du verteidigst unauflösliche Prinzipien. Du bist nicht arrogant, Zlatan. Du bist wehrhaft und stolz. Wie damals beim FC Barcelona, als Dich Pep Guardiola, dieser glatzköpfige Schamane, hinter Messi spielen ließ, als Schattenstürmer. Da hast Du ihn verlassen, den besten Verein der Welt. Du hast sie stehen lassen, die braven Schuljungen: Messi, Xavi, Iniesta. Die Taktiktafeln, den fuchtelnden Pep. Du hast ihn hinter Dir gelassen, diesen zwanghaften Systemfußball. Du willst das wilde Spiel. Man kauft keinen Ferrari und fährt ihn dann wie einen Fiat, hast Du damals gesagt. Einer Deiner Sprüche. Sie werden bleiben wie Deine Tore. Du gehst mit Worten um wie mit Bällen: unberechenbar, schnell. Wie musste ich lachen, Zlatan, als Dich mal ein Journalist fragte, woher die Kratzer in Deinem Gesicht stammen. Was für eine dämliche Frage! Und Du hast geantwortet: Frag mal Deine Frau.

Ich gehe durch die Innenstadt von Malmö. Kleine Häuser, Volvos, blonde Menschen. Alle hilfsbereit. Sie haben gesagt, dass es einen Pub gibt, der Deine Spiele überträgt, immer geradeaus, die Östergatan runter. Gleich spielst Du, zehn Minuten noch, Manchester United gegen Westbromwich Albion. Ich bin spät dran. Hermansgatan. Das Spiel fängt an. Fredsgatan. Verdammt, irgendwo hier muss es doch sein. Ich renne in dieses Einkaufszentrum, da höre ich tiefes Brüllen, als eroberten hundertzehn Wikinger ein Schiff. Ich renne die Treppen hoch, drängle mich in den Pub. Verdammt. Wer war’s? Wer hat das Tor gemacht?

Ich stehe da, noch in der Jacke, und sehe die Wiederholung. Fünfte Minute. Lingard spurtet den rechten Flügel hinunter, Ball eng am Fuß. Du rennst in die Spitze, 1,95 Meter, zwei Köpfe größer als der Verteidiger. Deine Muskeln angespannt. Deine Tattoos ranken sich um Deine Arme wie Efeu. Der Ball fällt auf Deinen Kopf. Der Torwart sieht aus, als fürchte er sich vor Dir. Du gibst dem Ball einen Stoß. Ich sehe jede Ader. Tor!

Heute ein König

In jenem Moment, in dem sich die Tür hinter mir schließt, ich die Tasche auf den Sessel stelle, lautlos, als dürfe man mich nicht entdecken, behutsam, als beträte ich eine Filmkulisse, die unverändert bleiben muss, in jenem Moment beginne ich zu verstehen: In diesem Bett werde ich schlafen, die Kopfkissen aufrecht und stolz, in dieser Badewanne werde ich liegen, das goldene Emblem ist in die Handtücher gestickt, RITZ. Ich falte sie auf, apricotfarben, weiblich, ich halte sie in den Händen, rieche am Stoff.

Ich muss früher beginnen, bei der Ankunft, Paris, Charles de Gaulle, weil es dort anfängt: das Staunen. Ich steige aus dem Flugzeug, und dort steht, zehn Schritte entfernt, eine Dame mit Schild in der Hand, das goldene Emblem, RITZ, bereits auf der Passagierbrücke werde ich empfangen. Ich bin noch zerknittert, Schulterblick: Ob dieses Privileg Anstoß erregt?

Die Dame erkennt mich, als wäre ich bekannt. Ich mustere sie, sie mustert mich. Zweifelt sie plötzlich, ob ich der Gast bin, den sie erwartet? Jacke von H&M, Hose von H&M, ungekonnt polierte Schuhe. Wer poliert denn so seine Schuhe? Wir gehen durch das Flughafengebäude, die Dame macht Konversation. Lobt, unberechtigterweise, mein Französisch. Draußen wartet eine Limousine, schwarz und lang. Die Dame übergibt mich: Als sei Luxus eine Kühlkette, der Gast muss nicht stehen, nicht warten, alles greift ineinander.

Ich sitze im Fond des Wagens, eine weiße Mappe liegt bereit, darauf das goldene Emblem, RITZ. Der Fahrer sieht aus wie ein Familienvater aus einer französischen Komödie, sympathisch also. Er justiert für mich die Klimaanlage, referiert das Wetter für die kommenden Tage. Wir sprechen über deutsche Autos, über französische Politik; er stimmt zu, fügt an, gelegentlich blickt er in den Rückspiegel. Ich fühle mich wohl bei ihm. Ich sehe Hochhäuser und Industrieanlagen, Pariser Vororte. Er fährt sanft, kein ruckhaftes Bremsen. Die Türen sind dick und schwer.

Ich muss noch früher beginnen, in der Kindheit. Ich bin Camper, das hat man mir anerzogen, und ich mag das sehr: das Geräusch, wenn man das Zelt öffnet, das helle Ratschen. In Badehose und mit Klopapier unter dem Arm über den Campingplatz gehen. Man grüßt sich. Hallo. Guten Morgen. Mit Klopapier unter dem Arm sind alle Menschen gleich.

Wie gut das Gefühl ist, mit freiem Oberkörper auf einem Klappstuhl zu sitzen, barfuß in einem Pinienwald. Das Warten am Gaskocher, Miracoli als abendliche Verheißung. Scrabble spielen im Kerzenlicht, lesen mit der Taschenlampe, das Schattenspiel auf der Zeltwand. Wie man schaukelt, wenn man sich auf der Luftmatratze dreht, man schaukelt wie ein Schiff auf dem Ozean.

Ich hatte nie Sehnsucht nach Hotels. Schon eine Nacht im Ibis fand ich teuer, das sind mindestens fünf Tage auf dem Campingplatz. Doch die Dinge änderten sich. Ganz langsam. Das Leben wurde komplizierter, die Welt lauter, der Alltag schneller. Mich begann die Vorstellung zu faszinieren, dass man ankommt, den Koffer abstellt, sich einfach ins Bett fallen lässt. Und dass einem nachts keine Spinne in den Mund läuft.

Wenn ich fortan nach Quartieren schaute, veränderte ich meine Suche, testweise, man kann ja mal gucken: Hotel, fünf Sterne, mit Pool. Ich klickte mich durch Bilderstrecken. Ich sah Schlösser, Marmor und Gold. Geharkten Kiesweg, gestutzte Hecken. Wie es wohl wäre, in diesem Bett zu versinken, mir diesen Bademantel umzulegen, in diesen Pool zu steigen, mich treiben zu lassen, bis der Hunger kommt? Wie fühlt sich Luxus an? Ich wollte es ausprobieren: Heute ein König.

Für meine Expedition kam nur ein Ort infrage. Seit ich als Junge mal staunend vor dem Ritz gestanden habe, ehrfürchtig und klein, frage ich mich, was hinter dieser Fassade geschieht. Ich habe Bilder im Kopf: von Großbürgern und Schriftstellern, von feinen Damen, die mit Champagner in der Hand in der Badewanne liegen, und von Herren in schweren Sesseln. Wann immer ich an Luxus dachte, fiel mir das Ritz ein. Ich buchte zwei Nächte im günstigsten Zimmer. Tausend Euro die Nacht.

Der Fahrer lenkt den Wagen auf die Place Vendôme, Boutiquen, Dior, Rolex, Patek Philippe, ein Platz mit Obelisk in der Mitte, ein absolutistisches Rechteck, erbaut von Ludwig XIV. Der Wagen dreht eine Ehrenrunde für den Gast, bevor er am Ritz zum Stehen kommt. Wie steigt man hier aus? Wie viel Trinkgeld gibt man einem Mann, der üblicherweise Millionäre chauffiert? Ich gebe ihm zehn Euro. Ein Page öffnet mir die Tür, weiße Handschuhe, helle Uniform, er greift nach meinem Gepäck, bevor ich es tun kann. Willkommen.

Ich gehe unter hellen Korbmarkisen auf rotem Teppich, gläserne Drehtür, ich trete in die Lobby: Hier ist die Welt größer, opulenter, wärmer. Samtene Vorhänge in Königsblau, goldener Saum. Marmor, dunkles Holz. Ich fühle mich wie ein Kind vor dem Weihnachtsbaum.Was ist das für ein Geruch? Vanille? Honig? Milch? Ob es die Reste eines Parfums sind? Es übernimmt ansatzlos François, der Guest Relations Manager. Glatt rasiert, akkurat gekämmt. Er wird mir die nächsten zwei Tage zur Seite stehen. Andeutung einer Verbeugung. Bonjour, Monsieur Dachsel.

François führt mich aufs Zimmer. Wir fahren im Aufzug und schweigen, er lächelt. Müsste ich jetzt was sagen? Ich fülle die Stille mit der Frage zu einem Drink, der hier erfunden wurde, dem Serendipity. Zerstoßene Minze, Calvados, frisch gepresster Apfelsaft, Champagner, Eis. »Sollte ich so einen trinken?« – »Sollten Sie unbedingt«, sagt François. Merkt er, dass ich aufgeregt bin?

Als wir im Zimmer ankommen, zückt er seine Visitenkarte. Königsblau, goldenes Emblem. Ich soll ihn anrufen, bei jedem Wunsch. Dann schließt er die Tür, ich stelle die Tasche auf den Sessel. Ich schlüpfe in Hausschuhe aus Plüsch, apricotfarben, goldenes Emblem. Weiche Sohle. Als ginge man auf Marshmallows. Ich atme auf – allein in meinem Reich.

Ein Blick in den Innenhof: ein barocker Park, Gartenmöbel, ein Kiesweg. Das Zimmer sieht nach Versailles aus, nach königlicher Verschwendung. Ich drehe den Hahn im Bad auf, das Wasser strömt aus goldenen Schwänen. Ich mache die Deckenlampen an, goldene Drehschalter, das Licht ist gutmütig und sanft. Auf einer goldenen Etagere liegen Pralinen, sechs Stück. Sind die umsonst? Ich esse sie alle. Ich schließe die Gardinen, schlage das Bett auf, lasse mich fallen. 15.30 Uhr. Es ist Nacht.

Im Zelt steht zwischen dir und der Welt nur eine Nylonwand. Wenn die Sonne beschließt, dass du aufzustehen hast um sechs Uhr morgens, dann hast du aufzustehen. Wenn der Wind beschließt, dass er an den Zeltstangen reißen will, dann reißt er an den Zeltstangen. Wenn nachts der Regen beschließt, dass er dich wegspült, dann spült er dich weg. Und wenn deine Nachbarn beschließen, Sex zu haben, dann hörst du das, Anfang, Höhepunkt, Schluss.

Mein Mittagsschlaf dauert zweieinhalb Stunden. Als ich erwache, wundere ich mich drei Millisekunden lang, wo ich gelandet bin. Ich setze mich auf, schalte das Licht an. Ich habe Hunger. Die Speisekarte des Zimmerservice hält für einen Camper einige Pointen bereit. Trüffelrisotto: 90 Euro. Canapés mit Beluga-Kaviar: 800 Euro. Eine Flasche Champagner: 1200 Euro. Eine Flasche Château Pétrus: 8200 Euro. Ich bestelle einen Burger mit Pommes und ein Bier, 40 Euro. Eine Viertelstunde später klingelt es an der Tür.

Ich öffne in Sporthose und T-Shirt. Zerzauste Haare. Der Herr, bonsoir Monsieur,schiebt einen weiß gedeckten Tisch in den Raum. Er holt den Burger darunter hervor, aus einem Wärmeschrank. Es sieht aus, als könnte er zaubern. Voilà! Das Heineken steht in einem Weinkühler, umgeben von Eis. Ich bin noch nicht wach genug, um zu sagen: Lassen Sie es einfach hier, ich esse im Bett.

Also beginnt das Schauspiel: Er richtet den Tisch zum Fernseher aus, zentimetergenau, noch ein bisschen nach rechts, noch ein bisschen nach links.

»Wie wünschen Sie Ihr Bier?«

Ich sitze auf der Bettkante. »Ääähh …«

»Soll ich es einschenken?«

»Okay.«

Er schenkt ein, behutsam wie ein Sommelier, bis das Glas halb voll ist, dann streckt er es mir entgegen.

»So?« – »Perfekt.«

»Manche Gäste haben ein spezielles Verhältnis zum Bier, wissen Sie?«

»Mein Verhältnis zum Bier ist, dass ich es trinke«, antworte ich und schicke, in der Befürchtung, dass mein Satz zu schroff geraten ist, ein unsicheres Lachen hinterher. Er rückt den Stuhl zurecht, weist auf die Sitzfläche. »Bitte setzen Sie sich.« Meine Haare stehen in alle Richtungen. Ich drücke sie mit der flachen Hand an den Kopf. Ich setze mich. Messer und Gabel in der Hand, ein Burger vor mir. Der Herr verabschiedet sich, mit leichter Verbeugung.

Ich sitze in diesem Haus – 1898 von César Ritz mit dem Anspruch eröffnet, dass es das beste Hotel der Welt werden möge; einst bewohnt von Marcel Proust, von Coco Chanel, von Ernest Hemingway, von Elton John, von Lady Diana, von Pariser Großbürgern, die sich hier fühlen wollten wie der Adel; unlängst renoviert für 200 Millionen Euro, neu poliert und aufgepolstert – und beiße in einen Burger, mein Mund ist mit Mayonnaise verschmiert, vom Kinn bis zur Nase.

Nach dem Essen überlege ich kurz, da halte ich das Telefon schon in der Hand, ob ich François anrufe, den Guest Relations Manager. Ich habe meine Zahnbürste zu Hause vergessen. Ich drehe die Visitenkarte in meiner Hand, wähle seine Nummer, es klingelt, einmal, zweimal, dann lege ich wieder auf. Es ist mir peinlich, einen erwachsenen Menschen loszuschicken, weil ich meine Zahnbürste vergessen habe. Ich ziehe mir eine Jeans an und gehe in den Supermarkt. Die Stadt ist voll, ich überhole genervt Touristen, sie stehen im Weg und schauen sich Fassaden an. An einer Kreuzung renne ich bei Rot über die Straße, ein Roller bremst vor meinen Füßen. Ich hebe die Hand, Entschuldigung.

Vor dem Schlafengehen drehe ich vier Runden im Schwimmbad, in einer Halle, so groß wie ein Kirchenschiff, ich schaue an die Decke, sie ist hellblau und weiß bemalt, ein sommerlicher Wolkenhimmel mit Stuckrand, und so hoch, dass jedes Wort hallt, jeder Schritt. Ich tauche ab, ein Muster aus Mosaikfliesen am Boden, Sprudelwasser am Beckenrand zur Rückenmassage. Ich schwimme auf und ab. Mache den toten Mann. Tauche ab. Tauche auf. Absolute Stille.

Ich bin ganz allein, selig und froh. Es ist wie in der Limousine, auf der Fahrt ins Hotel: Mein Luxus ist es, zu verschwinden, mich fernzuhalten von dieser aufgekratzten Welt. Ich blättere in How to spend it, liege in der Sauna, sitze im Dampfbad. Aus der Dusche regnet aromatisiertes Wasser, mit Knöpfen an der Armatur wähle ich die Art des Duschgangs: viel Druck, wenig Druck, tröpfelnd, plätschernd, warm, kalt. Ich creme mich mit einer Lotion ein, die in der Umkleide steht. Sprühe irgendetwas in meine Haare. Kämme mich. Ich gehe schon etwas aufrechter durch die Lobby, schwarzes Hemd und Seitenscheitel, wohlriechend. Ich nehme meinen Platz ein, etwas abseits auf einem Sessel, und beobachte. Ein Herr liest Zeitung, die Beine übereinandergeschlagen. Gedämpfte Gespräche. Eine Dame schreitet durch die Lobby, anmutig wie Grace Kelly in Die oberen Zehntausend. Kein Blick links, kein Blick rechts, die Haare blond und gewellt. François führt ein Ehepaar zum Aufzug. Bilde ich mir das ein, oder freut er sich, mich zu sehen? Bonsoir Monsieur.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, liegt die Zeitung vor der Tür. Ich blättere ein bisschen, ein König im Bademantel, duschen, Zähne putzen, Seitenscheitel, einmal mit der Fusselrolle über das Hemd, dann gehe ich runter.

Das Frühstück wird in drei Gängen serviert. Es geht, nach kurzer Vorstellung der Optionen, mit roten Früchten los, der Kellner stellt den Teller andächtig vor mich, die Beeren liegen so akkurat arrangiert, als hätte sich ein Food-Stylist einen Tag lang um sie gekümmert. Es folgt ein Omelett, wieder andächtiges Abstellen des Tellers. Sobald ich meinen Arm ausfahre, um mir Kaffee nachzuschenken, eilt jemand herbei und greift zur Kanne. Betreutes Nachschenken, freundliches Nicken. Merci, Monsieur.

Ich greife zu einer silbernen Zange. Klemme ein Stück Zucker ein. Auf halber Strecke zur Kaffeetasse fällt das Zuckerstück in den Orangensaft. Nur Haltung bewahren. Wie der Herr am Nachbartisch. Gekleidet, als wolle er heute angeln gehen. Aber er trägt die Cargohose mit großer Selbstverständlichkeit. Strahlt aus, dass er diesen Luxus verdient. Dass ihm hier alles zusteht. Mir gelingt das nicht.

In meine Körpersprache mischt sich Unsicherheit: Ich stoße mein Knie am Tischbein, scrolle auf meinem iPhone auf und ab, als würde ich so die Antwort finden auf die Frage, wie ich mich hier zu verhalten habe. Ich lege meine Serviette auf den Teller und gehe. In der Lobby begegne ich François. Wir lachen beide kurz auf, als erfreute uns der wiederholte Zufall unserer Begegnungen. Er weiß ja nicht, dass ich das Haus kaum verlasse. Denn ist nicht jede Minute, die ich nicht im Hotel verbringe, verschwendetes Geld?

Am Abend sitze ich mit Zeitung, Nüssen und einem Serendipity, den ich sehr langsam trinke, in der Ritz Bar und lasse mich, mit vorgetäuschter Kennerschaft, über den verwendeten Champagner informieren. Da kommen zwei Frauen herein, sie sind laut und aufgekratzt, als feierten sie einen Erfolg. Die eine trägt Jeansjacke. Blasse Haut, volle Lippen, schlanke Nase.

Ich kenne diese Frau. Ist das nicht Julie Delpy, die Schauspielerin? Bekannt aus Before Sunrise, Before Sunset und Before Midnight. Soll ich zu ihr rübergehen? Sie ansprechen? Ein Selfie mit ihr machen? Ich entscheide mich für ein unauffälliges Nicken, das so unauffällig ist, dass ich es selbst nicht bemerke. Denn das gilt im Ritz wie auf dem Zeltplatz: Jeder hat seine Parzelle, man lässt sich in Frieden. Ich bestelle die Rechnung, 80 Euro für zwei Drinks, und gehe ins Bett.

In dieser Nacht schlafe ich unruhig. Irgendwann wache ich auf, ich habe Kopfschmerzen, Hunger und Durst. Ich blättere durch die Speisekarte. Pochierter Hummer, gegrillte Garnelen, Ratatouille. Ich entscheide mich für einen Teller Spaghetti mit Butter.

Der Mann vom Zimmerservice schaut fast überrascht, dass es ihm diesmal nur gelingt, einen Teller blanke Nudeln aus dem Wärmeschrank zu zaubern. Auf dem Zeltplatz würde ich jetzt, am Gasherd kauernd, in Badehose und Unterhemd, eine Soße kochen: Tomatenmark, Basilikum, Pfeffer, Salz, Parmesan aus der Tüte. Ich würde ein Bier öffnen und die Füße von mir strecken; man kriegt den Jungen aus dem Zelt, aber das Zelt nicht aus dem Jungen.

Die Place Vendôme verlasse ich, nach zwei Nächten im Ritz, zu Fuß. Ich winke François. Der Himmel ist grau, die Stadt ist laut, ich fühle mich wie ausgespuckt. In einer Sache ähneln sich Campingplatz und Luxushotel: Man ist an beiden Orten vor den Zumutungen des Alltags geschützt, vor dem Lärm der Stadt. Im Ritz rettet sich der Reisende hinter dicke Mauern und schwere Türen, auf dem Zeltplatz flieht er in die Abgeschiedenheit der Natur. Weltflucht – in der günstigsten und in der teuersten Variante.

An der ersten Kreuzung hupt mich ein Auto an, ich bleibe mit meiner Tasche an einem Verkehrsschild hängen. In der Metro kiffen zwei Jungs, sie blasen den Rauch gegen die Fensterscheibe. Wenn es wieder warm ist, fahre ich zum Zelten an die Ostsee.

„Das war blanker Hass“

Kein Jahr wurde so oft beleidigt wie das Jahr 2016. Was macht das aus ihm? Am Ende seiner Amtszeit wendet es sich in einem Exklusivinterview an seine Kritiker.

ZEIT ONLINE: Jahr 2016, danke, dass Sie sich in Ihren letzten Amtstagen Zeit nehmen für dieses Gespräch.

2016: Für ZEIT ONLINE immer.

ZEIT ONLINE: Als vor wenigen Tagen George Michael starb, twitterte Madonna „kann sich 2016 jetzt verpissen?“. Wie sehr hat Sie das geschmerzt?

2016: Das hat wehgetan, klar. Aber überrascht hat es mich nicht .

ZEIT ONLINE: Weshalb?

2016: Nun ja, die Beleidigungen gegen meine Person sind ja nichts Neues, das geht ja schon seit einigen Monaten so. Das reicht von Menschen, die auf Twitter schreiben „Fick dich 2016, du bist der Hitler unter den Jahren“ bis zu John Oliver, den ich ansonsten sehr schätze .

ZEIT ONLINE : Der amerikanische Late-Night-Talker sprengte im November eine Statue von Ihnen in die Luft.

2016: Ich schätze gut gemachte Satire. Aber das ging unter die Gürtellinie. Das war ein offener Aufruf zur Gewalt. Hinzu kommt: Es war Mitte November. Da hatte ich noch sechs Wochen vor mir.

ZEIT ONLINE: Mit Verlaub, es wurde nicht gerade besser.

2016: Und das wollen Sie mir anlasten?

ZEIT ONLINE: Nein. Wir stellen nur Fragen.

2016: Neulich habe ich bei einem Ehemaligen-Kongress das Jahr 746 getroffen. Inzwischen sehr alt – aber ein ausgesprochen kluges, ein höfliches Jahr. Nun frage ich Sie: Würden Sie jemals auf den Gedanken kommen, das Jahr 746 zu beleidigen?

ZEIT ONLINE: Würde es denn einen Grund geben?

2016: Ausbruch der Beulenpest in Konstantinopel! Zehntausende Tote! Wenn man so will: ein furchtbares, ein grausames Jahr. Kein Mensch kam auf den Gedanken, das Jahr zu beleidigen. Wissen Sie, was die Menschen damals gemacht haben? Sie gingen auf die Knie und beteten zu Gott.

ZEIT ONLINE: Vom Jahr 1968 stammt der Ausspruch „Wenn ihr schon übersehen wollt, wie ich wirklich bin, dann tut mir wenigstens einen letzten Gefallen: vergesst mich!“ Erkennen Sie sich, nach zwölf Monaten Amtszeit, in diesen Worten wieder?

2016: Absolut. Ich will und wollte niemals in die Geschichte eingehen. Das Jahr 1968 ist ein gutes Beispiel: ein korrekter, fast schüchterner Kollege. Hat den Jahreslehrgang damals mit einer glatten Eins abgeschlossen. Trotzdem denken neun von zehn Menschen an mangelnde Körperpflege und Marihuana, wenn sie 1968 hören.

ZEIT ONLINE: Nun wissen wohl die wenigsten Menschen, was so ein Jahr überhaupt macht. Schildern Sie doch mal, wie die Amtszeit eines Jahres im Normalfall abläuft.

2016: Das ist nicht weiter spektakulär. Man kann sich das erst mal vorstellen wie den Wartesaal auf einem beliebigen Amt. Man sitzt da, bis man aufgerufen wird. Schläft ein bisschen, blättert in Zeitschriften. Wenn das Vorjahr auf dem Display steht, macht man sich langsam fertig. Und dann: Ab!

ZEIT ONLINE: Und dann müssen Sie 365 Tage lang arbeiten, ohne Auszeit.

2016: In meinem Fall sogar 366 Tage! Ich bin ein Schaltjahr. Da muss man höllisch aufpassen, sonst gibt es ein Riesenchaos. Hat sich dafür jemand bedankt? Natürlich nicht.

ZEIT ONLINE: Ihr Ruhestand wird Ihnen mit einem stattlichen Ehrensold versüßt. Sie haben kostenlosen Zugang zum „Golfclub vergangener Jahre“. Klingt nach einer angemessenen Entschädigung. Haben Sie schon Pläne für das nächste Jahr?

2016: In erster Linie stehe ich meinem Nachfolger beratend zur Seite. 2017 hat es nicht leicht. Die Erwartungen an das neue Jahr sind immens, die Stimmung ist schwierig.

ZEIT ONLINE: Machen Sie gar keinen Urlaub?

2016: Vielleicht ein paar Tage Langlauf im Engadin. An Pfingsten fahre ich mit 1945 und 2001 in eine Bio-Wellness-Herberge nach Scharbeutz. Ansonsten, das verstehen Sie vielleicht, gehe ich im Moment ungern unter Menschen.

ZEIT ONLINE: Weshalb denn?

2016: Wollen Sie, überall wo Sie auftauchen, bespuckt und beschimpft werden? Die Beleidigungen gegen meine Person haben eine neue Qualität erreicht. Das ist blanker Hass.

ZEIT ONLINE: Haben Sie eine Vermutung, woher dieser Hass kommt?

2016: Die Menschen brauchen einen Sündenbock. Sie spüren, um mit Heidegger zu sprechen, die „Hineingehaltenheit ins Nichts“: Es geht vor und zurück, nach rechts, nach links. Um mit diesem Chaos fertig zu werden, unterstellen sie dem Jahr einen bösartigen Willen. Das ist Aberglaube. Wie in der Steinzeit.

ZEIT ONLINE: Da gab es noch keine Zeitrechnung.

2016: Richtig. Da haben die Menschen, wenn es mal schlecht lief, die Blitze und die Regenwolken verflucht. Später verbreitete sich das Christentum, monotheistischer Glauben. Der wiederum wurde von der Aufklärung zurückgedrängt. Aber ganz ohne Glauben können die Menschen nicht. Sie glauben immer. Im Moment glauben sie offenbar daran, dass ich an allem Schuld bin.

ZEIT ONLINE: Sie klingen bitter.

2016: Kein Mensch weiß, wie ich geweint habe, als David Bowie starb. Jetzt wissen Sie es: Ich habe geweint wie ein Kind.

Brief an den Kleinen Mann

Ich wollte Dir schon die ganze Zeit mal schreiben, weil gerade alle von Dir sprechen. Ich will mich vorstellen, kleiner Mann. Ich heiße Felix und bin Journalist. Wir Journalisten sind im Moment alle etwas aufgeregt. Wegen des großen Schlamassels, den Du uns angeblich eingebrockt hast.

Ein Kollege sagte mir, »der kleine Mann« habe die Wahl in Amerika entschieden. In der FAZ las ich in einem Kommentar, dass man den kleinen Mann jetzt nicht in eine Ecke stellen dürfe, in die er nicht gehöre. Und Alexander Gauland von der AfD versprach, dass sich seine Partei für den kleinen Mann einsetzen wolle – überall dort, wo er ungerecht behandelt werde.

Seitdem mache ich mir Gedanken, kleiner Mann, deshalb schreibe ich Dir jetzt diesen Brief. Wie groß bist Du ungefähr? Eher wie eine Ameise oder wie ein Autoreifen? Kann man Dich theoretisch auf dem Gehweg übersehen? Ich googelte Dich, suchte nach Dir in der Pressedatenbank. Was mag der kleine Mann? Wovon träumt er? Isst er gern Schnitzel? Bist Du überhaupt Deutscher, kleiner Mann? Und wenn ja: Wie konntest Du dann die Wahl in Amerika entscheiden?

In der Hamburger Morgenpost fand ich einen Bericht über den Serienmörder Fritz Honka. »Der kleine Mann schrieb 1975 Kriminalgeschichte, als nach einem Wohnungsbrand die Einzelteile mehrerer Damen der Hamburger Halbwelt bei ihm gefunden wurden«, stand da. Der kleine Mann ein Mörder? Das muss eine Verwechslung sein.

Im Focus las ich ein Zitat von Georg Pazderski, Politiker der AfD. In den USA habe sich der kleine Mann gegen das Establishment entschieden. Schau an!, dachte ich. Dieser Pazderski kennt den kleinen Mann offenbar. Den müsste man mal anrufen und nach dem kleinen Mann fragen. Hab ich dann gelassen. Pazderski ist Oberst der Bundeswehr und sieht ziemlich streng aus.

In der taz erklärte mir ein Kollege den Wahlsieg von Donald Trump. Trump wolle die Straßen reparieren. Und die Brücken, Tunnel, Flughäfen, Schulen und Krankenhäuser. »So gewinnt man das Vertrauen der Wähler«, schrieb der Kollege. Denn: »Der kleine Mann, die kleine Frau will sehen, dass sich etwas ändert.« Da war ich erst mal erleichtert, kleiner Mann. Es gibt also auch eine kleine Frau! Dachte ich es mir doch. Du bist nicht allein.

Ich fand weitere Hinweise. In der Bild beschwerte sich ein Leser, dass Uli Hoeneß nach Absitzen seiner Haftstrafe wieder einer geregelten Arbeit nachgehen dürfe: »Der kleine Mann kriegt mit einer Vorstrafe keinen Fuß mehr auf den Boden, doch bei den Bayern gibt’s zur Belohnung den Präsidentenposten!« Also nein, dachte ich mir. Der kleine Mann hat eine Vorstrafe! Ich musste etwas lachen, sei mir nicht böse. Aber das Bild von einem kleinen Mann, der keinen Fuß mehr auf den Boden kriegt … Ach, komm schon! Das ist lustig! Man muss über sich lachen können, kleiner Mann!

In der FAZ las ich, dass im Moment die Gaspreise sehr niedrig seien. Der Gewinner sei »der kleine Mann«. Glückwunsch. Das gönne ich Dir natürlich, kleiner Mann, nach allem, was Du durchgemacht hast. Heizt Du denn viel? Du weißt aber schon, dass das nicht gut ist für die Umwelt? Der Klimawandel ist Dir ein Begriff? Okay, ich will jetzt nicht zu belehrend sein. Unter uns: Ich heize ja auch wie ein Dummer. Manchmal schon im September. Mit offenen Fenstern!

Na ja, und dann gab es noch einen Hinweis in dieser Zeitung. Es ging um die Krise der Sozialdemokratie – und um Dich! Die Kollegin fragte in ihrem Text, wieso sich der Genosse in Oer-Erkenschwick eigentlich freuen sollte, wenn die SPD wieder die internationale Solidarität entdecke und ihm erkläre, dass der kleine Mann jetzt in Eritrea oder Syrien wohne? Und da, kleiner Mann, habe ich völlig die Orientierung verloren. Oer-Erkenschwick? Eritrea? Syrien? Wo wohnst Du denn nun?

Ich habe die Frage dann einfach mal gegoogelt: »Wo lebt der kleine Mann?« Die Antwort habe ich in einem Kinderlied gefunden, ist das nicht verrückt? In einem Tickitackitucki-Häuschen, da wohnt ein kleiner Mann, da wohnt ein kleiner Mann. In einem Tickitackitucki-Häuschen, da wohnt ein klitzekleiner Mann.

Ich habe das Tickitackitucki-Häuschen eben bei Google Maps eingegeben. Und? Nichts. »Wir konnten Tickitackitucki-Häuschen nicht finden«, steht da. Wie das nervt. Lügenkarte. Google. Verdammter Großkonzern. Jetzt bin ich richtig wütend, kleiner Mann. Schreib mir, wir müssen endlich was unternehmen!

Ist 2016 das historischte Jahr aller Zeiten?

Ein Wort geht um in diesem Land. Es breitet sich immer schneller aus. In Redaktionen, in Parlamenten, in Festsälen und Mehrzweckhallen. Das Wort heißt: »historisch«. Sehr viel ist inzwischen historisch.

Abkommen sind historisch, Wahlergebnisse sind historisch, Staatsbesuche sind historisch, Gerichtsurteile sind historisch, Referenden sind historisch, ein Händedruck zwischen Präsidenten ist historisch. Große Ereignisse sind historisch. Da war in diesem Jahr recht viel: die Wahl von Donald Trump, der Brexit, der Tod von David Bowie, von Fidel Castro, von Muhammad Ali, von Prince.

Aber es ist zum Beispiel auch historisch für die »jüngste Reutlinger Eishockey-Geschichte« (Südwestpresse), wenn die TSG Blackeagles Reutlingen ein 3 : 5 in ein 10 : 5 wendet. Es ist historisch, dass die FDP die Oberbürgermeisterwahl in Landshut gewinnt (Süddeutsche Zeitung). Es ist historisch, wenn Reinhold Messner auf dem Südtiroler Kronplatz-Gipfel in den Dolomiten ein Bergmuseum einweiht (Bunte). Und es ist historisch, wenn sich die Kultusminister der Bundesländer auf ein Förderprogramm für besonders begabte Schüler einigen (ZEIT).

Und wie nennt man eine Zeit, die so reich an historischen Ereignissen ist? Richtig: Auch sie ist historisch. Man spricht von historischen Tagen und Wochen – der Begriff lässt sich nach Bedarf weiten wie ein Haargummi.

Es ist zum Beispiel ein historischer Tag für Finnland, wenn Staatspräsident Sauli Niinistö das Nato-Hauptquartier in Brüssel besucht (Welt am Sonntag). Oder es ist ein historischer Tag, »den auch Fit for Fun- Leserin Vanessa nie vergessen wird!«, wenn beim Ironman auf Hawaii drei deutsche Athleten auf dem Siegertreppchen stehen (Fit for Fun). Und es ist ein historischer Tag für Schottland, Großbritannien und Europa, wenn Schottland in einem Referendum gegen seine Unabhängigkeit stimmt(Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung).

Auch wenn »historisch« gerade in diesem Jahr so richtig durchstartet: Dieses Wort ist nicht nur ein Phänomen der Gegenwart. Schon die letzten Jahre waren ziemlich historisch. Und auch die Zukunft wird historisch werden. »2011 war für die drei großen Raumfahrtnationen USA, Russland und China ein historisches Jahr«(Süddeutsche Zeitung). »›2014 ist ein historisches Jahr für Lettland‹, sagte Noch-Ministerpräsident Valdis Dombrovskis, als er wenige Minuten nach dem Jahreswechsel den ersten Euro-Schein aus einem Bankautomaten in der Innenstadt von Riga zog«(Berliner Zeitung). »Sollte 2015 wieder ein historisches Jahr für die Lebenswissenschaft werden, so beginnt es doch mit Stochern im Nebel« (ZEIT).»Gerade in diesem Jahr, in dem wir den 25. Jahrestag der deutschen Einheit feiern werden, sollten wir nicht übersehen, dass 1990 auch für Namibia ein historisches Jahr war« (ZEIT). Und: »2021 könnte also ein historisches Jahr werden, an das man sich noch lange erinnern wird« (Süddeutsche Zeitung).

Aber nicht nur Ereignisse und Zeiten sind historisch, sondern auch – ja, was denn eigentlich? Alles.

Im Tagesspiegel stand neulich, »die allgemeine Lage« sei historisch. »Nicht nur wegen Brexit, AfD und Trump, wegen Krieg und Terror, sondern auch weil die Gesellschaft spürt: Alles verändert sich.« Aber hat sich nicht immer alles verändert? Wäre es nicht umgekehrt meldenswert, wenn sich plötzlich mal nichts mehr veränderte? Wären das nicht breaking news: wenn der Fortlauf der Dinge zum Erliegen käme und die Zeit stehen bliebe?

Mit Worten ist es wie mit Geld: Je mehr man sie in Umlauf bringt, desto schneller verlieren sie an Wert. Das Wort »historisch« erlebt gegenwärtig so eine Inflation. Was ist der nächste Schritt? Bleibt wohl nur der Komparativ: historischere Zeiten. Und der Superlativ: historischste Zeiten.

»Historisch«, das war mal ein nützliches Wort. Es bedeutete so etwas wie »lange her, aber folgenreich«. Sparsam gebraucht, half es dabei, Vergangenes zu gewichten. Seitdem wurde es beinah ins Gegenteil verkehrt: zu einer Vokabel des Ultra-Präsentischen. Zu einem Wort, das zur fuchtelnden Live-Beschreibung herhalten muss von beinah allem, was gerade – Jetzt! In diesem! Moment! – vor unseren Augen geschieht. Egal ob Reaktorkatastrophe oder Tennisspiel. Ist das vielleicht der Versuch, unser Erleben zu überhöhen, unsere Existenz aufzuwerten? Denn: Wer will schon in langweiligen Zeiten gelebt haben? Wir machen nervös Selfies. Im Hintergrund sehen Sie: die lodernde Zeitgeschichte. Im Vordergrund sehen Sie: mich!

Aber, alte Bauernregel: Kochendes Wasser lässt sich nicht einfrieren. Wir können die Gegenwart nicht in Geschichte verwandeln, solange sie noch passiert. Und das ist auch besser so: Denn Gegenwart lässt sich verändern, die Geschichte nicht.

Ob wir in besonders historischen Zeiten leben – oder in besonders hysterischen: Das wird allein die Zukunft entscheiden, das werden wir im Rückblick verstehen.

Brief an ARD und ZDF

Liebe ARD, liebes ZDF, wärt ihr Menschen und kein Fernsehkanal, dann würdet ihr das Handy in einer Gürteltasche tragen, weil es praktisch ist. Euer Klingelton wäre sehr laut. Auf Geburtstagen würdet ihr dem Jubilar »Herzlichen Glühstrumpf« wünschen, weil ein Wortspiel das Leben schöner macht. Im Zug würdet ihr fünfzehn Minuten vor Ankunft aufstehen, für alle Fälle. Du, ZDF, würdest vielleicht Peter heißen. Und du, ARD, Regine. Man muss euch beide einfach gernhaben. Bleibt bitte, wie ihr seid. Denn, ehrlich gesagt: Ich mache mir Sorgen. Ihr redet so merkwürdig neuerdings.

An diesem Samstag startet ihr ein Projekt, mit dem ihr junge Menschen erreichen wollt, so richtig junge Menschen, die 14- bis 29-Jährigen. Ihr nennt dieses Projekt »Junges Angebot von ARD und ZDF«, was immerhin ein solider Name ist. Ihr gebt dafür jährlich 45 Millionen Euro aus. Das »Junge Angebot« ist kein Kanal im Fernsehen, wenn ich euch richtig verstanden habe. Sondern eine Plattform im Internet, von der aus »Content« an »User« verteilt wird, über Snapchat, Instagram und YouTube.

Und es ist ja völlig okay, ARD und ZDF, dass man die Wörter »Content« und »User« benutzt – aber ihr klingt dabei ein bisschen wie die Eltern, die verzweifelt versuchen, ihr pubertierendes Kind anzusprechen, nach Wochen der Stille.

So klingt es auch, wenn ihr offiziell bekannt gebt, dass ihr mit dem jungen Angebot »ein wenig Start-up-Atmosphäre in das schwerfällige System« bringen wollt. Mit dem »schwerfälligen System« – da meint ihr euch, richtig? Wie Vater und Mutter, die sich im Kampf mit dem 14-Jährigen selbst herabsetzen, um das Gegenüber zu erhöhen: »Absolut verständlich, dass du deine uncoolen Eltern im Moment nicht so gernhaben kannst. Aber wir versuchen gerade echt, ein paar Sachen besser zu machen.« Warum seid ihr so ängstlich und defensiv? Wo ist euer Stolz?

Die Schwerfälligkeit ist das Schönste an euch, ARD und ZDF. Ihr haltet den Alltag in seiner Umlaufbahn. Ihr gebt Auskunft über den Fortgang der Zeit, wie eine Uhr:Morgenmagazin, Mittagsmagazin, Tagesthemen. Ihr findet immer das richtige Maß, das Mittelmaß. Ihr zeigt Deutschland, wie es wirklich ist: nicht sehr spannend. Die Provinz, Kreisstädte, Mittelzentren.

Ich habe zum Beispiel Angst, dass es irgendwann nicht mehr die Rosenheim-Copsgibt. Wenn ich nach Hause komme, nach getaner Arbeit, und den Fernseher anschalte, dann sind da der dicke und der dünne Kommissar, 19.25 Uhr, ZDF. Der eine ist sportlich (der Dünne), der andere ist gemütlich (der Dicke). Und dann gibt es noch einen Streifenpolizisten, der ein bisschen ein Trottel ist, und eine Sekretärin, die tratscht. Ich finde, das ist ein gutes Konzept. Werden die Rosenheim-Cops, sei ehrlich, ZDF, ihren Platz finden in der neuen »Start-up-Atmosphäre«?

Oder es gibt das ARD-Buffet, vormittags. Da läuft die sehr freundliche Moderatorin von einem Koch, der Staudensellerie grillt und Kapern frittiert, zu einem ernsten Handwerker, der den Zuschauern beibringt, wie man sich mit einem bunten Chrysanthemengesteck auf den Altweibersommer vorbereitet. Am Schluss setzen sich alle an einen Tisch und essen. Dann wird hinübergeschaltet zu Hannelore Fischer, insMittagsmagazin. Als Fischer dort zu moderieren begann, 1989, war ich zwei Jahre alt. Frau Fischer kommt aus München und rollt das r. Sie verändert sich praktisch nicht; sie ist wie die Ewige Stadt Rom.

Nehmt euch ein Beispiel an ihr, ARD und ZDF. Bleibt, wie ihr seid. Denn ihr seid großartig. Alle verändern sich. Die katholische Kirche, das Klima. Carsten Maschmeyer ist neuerdings nett. Ich finde, ihr müsst da nicht mitmachen. Wenn die Hand die Fernbedienung umschließt, weist der Zeigefinger auf euch – das ist doch ein ewiges Gesetz. Ihr seid für immer die Nummer eins. Und die Nummer zwei.

Und ich soll euch noch was ausrichten, von einem Freund: Es war ein Fehler, dasForsthaus Falkenau einzustellen. Aber das wisst ihr hoffentlich selbst.

Euer Felix Dachsel

Werdet ihr mich streicheln wie diesen Mops?

I. Perspektive

Die Alleinstehenden auf Tinder stehen tatsächlich oft allein, das ist die erste Erkenntnis. Sie stehen allein vor geschwungenen Spiegeln im Flur, sie stehen allein im Badezimmer, mit Duschkabine im Hintergrund, sie stehen allein in verspiegelten Aufzügen. Sie stehen da, oberkörperfrei, in Unterhemd, in Anzug oder Businesskostüm. Sie halten das Smartphone auf Halshöhe, den Blick aufs Display gerichtet, auf ihr digital reproduziertes Abbild – oder darüber hinweg, in den Spiegel.

Zum Beispiel Angelina, 24. Sie steht in schwarz-weißem Bunny-Kostüm, mit Hasenohren auf dem Kopf, vor einem umrahmten Standspiegel und schaut lächelnd auf ihr Handydisplay. Der Raum ist leer und halbdunkel. Oder Christin, 24. Sie sitzt in Yogahose und weißen Nike-Sneakers auf hellem Dielenboden, die langen Wimpern gesenkt, Blick aufs Smartphone, alleine. Oder Julian, 26. Er steht in grauem Anzug vor dem Spiegel eines verlassenen Bekleidungsgeschäfts, das iPhone auf Mundhöhe, ein Bein angewinkelt, als sei er gerade dabei, seinem Spiegelbild entgegenzugehen.

Das Spiegel-Selfie, das fotografische Selbstporträt also, das den Umweg über eine reflektierende Fläche nimmt (auch Schaufenster, gläserne Türen), ist allgegenwärtig auf Tinder. Es ist das wohl unmittelbarste Dokument von Singleschaft. Es zeigt Alleinsein auf zwei Ebenen: Die Person ist nicht nur allein auf dem Bild, allein vor der Kamera; sie ist auch allein hinter der Kamera. Sie ist Fotograf und Fotografierter zugleich.

Eine Perspektive, die an Kim Kardashian erinnert, jenes amerikanische Society-Wunder, das regelmäßig vor Superspiegeln steht, in Marmorbädern irgendwo in den Hügeln von Hollywood, sich mit ihrem iPhone knipst und das Bildnis ihrer Selbst per Instagram um die Welt schickt. Ein Spiegel-Selfie muss nicht Mangel und Einsamkeit dokumentieren, es kann – wie bei Kardashian – auch Zeugnis einer freiwilligen Selbstreferentialität sein. Der Single als Star. Das Spiegel-Selfie kann zudem auch als Beweis von Unabhängigkeit gelesen werden, es signalisiert: Ich brauch dich nicht unbedingt. Notfalls mache ich Dinge, die man zu zweit tut, alleine.

Und dann sind auf Tinder jene Bilder zu finden, auf denen jemand zu sehen ist, der nicht zu sehen ist. Eine zweite Person, die unsichtbar ist – aber präsent. Bilder, von denen man vermutet, dass sie in jener Zeit entstanden sind, in der eine Partnerschaft noch die Arbeitsteilung von Fotografieren und Fotografiertwerden ermöglichte.

Da sieht man eine Frau im abendlichen Gegenlicht, die bis zu den Knöcheln im Meer steht, und man sieht, zweitens, einen menschlichen Schatten auf dem Sand, den Schatten des Fotografen. Der lange Schatten der Beziehung? Ist das ihr Ex? Oder: Amira. Sie sitzt in einer schmalen Gasse vor einem Teller Rigatoni mit Parmesan, die Anmutung von Urlaub, sie greift sich in die Haare, den Blick auf die Nudeln gerichtet. Wer macht das Foto? Wer sitzt ihr da gegenüber? Und ist sie über ihn hinweg?

II. Mimik

Der deutsche Single hat augenscheinlich gute Laune. Die Lachenden sind auf Tinder in der absoluten Mehrheit, ach was: Sie machen mindestens zwei Drittel aus. Die Männer, vor allem die heterosexuellen, unterstreichen das fröhliche Okay gerne mit ausgestrecktem Daumen oder Victory-Geste. Danny, 28, hält in der einen Hand ein Becks und in der anderen einen silbernen Fußballpokal. Sein Gesicht ist das eines Gewinners: gerümpfte Nase, hochgezogene Augenbrauen, bei mir läuft’s. Das ist der erste Blick.

Auf den zweiten Blick stellt sich die Lage komplizierter dar. Die vordergründige Fröhlichkeit wird massenhaft irritiert: Mal blitzt Unsicherheit durch, mal Skepsis, mal die schlingernde Suche nach einem adäquaten Gesichtsausdruck. Die Frauen, fast ausschließlich die heterosexuellen, fallen reihenweise der nicht mehr ganz so neuen Mode des Duckfacings anheim. Sie schieben ihre Lippen zu einem Entenmund zusammen, in der Hoffnung auf Niedlichkeit und schmale Wangen. Seit Bestehen dieser Mode, seit gut sechs Jahren, scheint sich im Internet ein mimisches Wettrüsten entfesselt zu haben, das auch Tinder erreicht hat: Die Lippen werden noch weiter und entschiedener zu Schnuten geformt. Madeleine, 21, hebt sich durch karikierende Übertreibung ab. Sie hat die Wangen so weit eingezogen, dass sie auf ihnen herumkauen könnte.

Durchgesetzt hat sich auch das hobbyfotografische Wissen, dass der Hals am besten zu recken ist, um die Konturen des Gesichts zu unterstreichen und ein Doppelkinn zu vermeiden. Und dass man den Kopf leicht nach vorne zu beugen hat. Nur wird auch hier übertrieben: Der deutsche Single streckt den Hals, als wolle er über der Zaun zum Nachbarn linsen. Und er senkt den Kopf, als sei er skeptisch. Was er möglicherweise auch ist.

Skeptisch, ob er gute Miene zum bösen Spiel machen soll. Unsicher, ob das Spiel überhaupt böse ist oder doch eher gut. Hin- und hergeworfen zwischen der omnipräsenten Forderung nach Sexiness und der offensichtlichen Komik des Moments. Sie wird ihm bewusst im Augenblick der Selbstbeobachtung. Was tu ich hier?

III. Sprache

Olli, 23, schreibt in ihrem Profil, dass das Leben wie Radfahren sei. Um das Gleichgewicht zu halten, müsse man sich bewegen. Finja, 23, findet, dass die Augen der Spiegel der Seele seien. Meike, 27, konstatiert, dass Reisen die einzige Sache sei, die einen reicher mache, wenn man sie kaufe. Carolina, 27, stellt fest, dass es im Leben nicht darum gehe, sich zu finden, sondern darum, sich zu erschaffen. Und Frauke, 32, gibt bekannt, dass sie nicht suche. Denn sie habe nichts verloren.

Die heterosexuelle Singlefrau präsentiert sich auf Tinder mit Mut zum Sinnspruch, mit aphoristischer Verve. Ihr gegenüber steht der wortkarge Singlemann, ihn kennzeichnet eine Rhetorik des Pragmatischen. So wie Dominik, 30. Er unterschreibt sein Profilbild mit folgendem Zweizeiler: »Emotional und finanziell unabhängig. Bist du es auch?« Oder Ronaldo, 36. Er gibt an, athletisch zu sein und »die meiste Zeit geil«. Oder Maic, 35. Auf seinem Profil findet sich nur ein Satz, der entweder sehr gelangweilt ist oder ziemlich genial: »Über mich gibt es nicht viel zu sagen.« Möglicherweise folgt Maic der Weisheit des römischen Gelehrten Boëthius. Si tacuisses, philosophus mansisses. Wenn du geschwiegen hättest, wärst du ein Philosoph geblieben. Vielleicht handelt er im Wissen, dass uns das Verhüllte mehr reizt als das schonungslos Offenliegende.

Auseinander fällt offenbar auch das Verständnis darüber, was offenzulegen ist. Die Singlefrau gibt mehrheitlich Einblick ins Gemüt (»bereit für etwas Neues«, »manchmal melancholisch«, »echte Frohnatur«, »Gerechtigkeitsfanatikerin«), der Singlemann hingegen gibt eher Auskunft über Details seiner beruflichen Stellung (»Inhaber und Geschäftsführer«, »Gebietsverkaufsleiter«, »Interim Manager«, »leitender Angestellter«). Analog dazu präsentiert sich die Singlefrau eher in privaten Situationen, auf Reisen, in einer Gruppe von Freunden, am Strand, im Garten, barfuß, von Kindern umringt. Der Singlemann hingegen zeigt sich gerne im Anzug, in Konferenzräumen, auf gepolsterten Schreibtischstühlen, in der Fahrerkabine eines Lastwagens, im Cockpit eines Flugzeugs, im Foyer des Deutschen Bundestags.

Aufatmen, wenn die Einheitlichkeit dann durchkreuzt wird durch Männer, die Männer suchen, und durch Frauen, die auf der Suche sind nach Frauen. Da liegen Männer verträumt auf einem Sofa. Da packen kurzhaarige Frauen im Garten an. Man gewinnt den Glauben zurück, dass die Gemeinschaft der Singles nicht vollständig sortiert ist nach dem binären Prinzip: Null, Eins. Männlein, Weiblein. Arbeit, Familie. Auffallend ist auch die wiederkehrende Ironisierung der Geschlechterrollen durch aufgemalte Bärte oder Schnurrbart-Attrappen am Holzstiel, einem Party-Accessoire, das sich einige Singlefrauen neckisch vor den Mund halten. Die heteronormative Hölle brennt zwar. Aber sie brennt noch nicht lichterloh.

Traditionell wird hingegen noch immer die Frage nach dem Erstkontakt verhandelt. Fast ausschließlich Frauen sind es, die auf ihrem Profil die Ansicht formulieren, es sei die Pflicht des Mannes, einen Chat zu beginnen. Über diesen Anspruch hinaus konkretisieren viele Frauen, wie der Mann sie kontaktieren möge (»Bring mich zum Lachen«, »Schreibe bitte mehr als ›Hey‹ oder ›Wie geht’s dir?‹«). Viele Männer hingegen äußern den Wunsch, sich schnell zu treffen, statt lange zu schreiben. Um es mit den knappen Worten von Florian, 25, zu sagen: »Nicht labern…MACHEN!!!« Der weibliche Umtänzelungswunsch trifft hier auf männliche Erledigungsfantasien.

IV. Sport

Nach 10 000 gesichteten Singleprofilen meint man den Grund zu kennen, warum all die Menschen, die sich hier präsentieren, alleine durchs Leben gehen: Sie haben keine Zeit für einen Partner, sie müssen surfen. He, 25, liegt im Neoprenanzug auf einem lila Surfbrett, von weißer Gischt umspült. Cäci, 24, steht mit gebeugtem Rücken auf einem grünen Brett, die Welle wird sich gleich brechen. Andrea, 30, geht barfuß durch den nassen Sand, das Brett unter ihrem rechten Arm. Hagen, 20, trägt sein Brett in den Sonnenuntergang. Philipp, 28, legt das Brett gefühlvoll in den Sand. Tom, 26, schanzt gerade über eine Welle.

Was wollen uns die Surfer sagen? Vielleicht senden sie dem Betrachter, den potenziellen Interessenten also, einen hawaiianischen Gruß, »hang loose«: alles cool, alles locker, gute Welle. Der Surfer ist unangreifbar, durchgängig lässig, missglückte Dates perlen an seinem Neoprenanzug ab. Auf Platz zwei bis sieben der beliebtesten Singlesportarten folgen: Angeln, Krafttraining, Paragliding, Polo, Reiten, Fußball. Der Tinder-Single ist ein Sport-Monster, er demonstriert bildreich seine Bereitschaft zur physischen Instandhaltung. Männer gerne oberkörperfrei.

Die Idealisierung des gesunden Körpers steht einem Phänomen gegenüber, das man zugespitzt als Idealisierung des ungesunden Geistes bezeichnen könnte. Immer wieder liest man den expliziten Wunsch, der Gesuchte möge mental von der Norm abweichen (»Suche jemanden, der wie ich einen an der Klatsche hat«, »Ich mag verrückte Menschen«, »Finde Leute spannend, die ein bisschen einen Knall haben«). So könnte man in ihrem Sinne formulieren, in Abwandlung einer lateinischen Redewendung: Ein ungesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper.

V. Tiere

Wer Tiere sehen will, der geht in den Zoo. Oder noch einfacher: Er meldet sich bei Tinder an. Die Plattform ist belagert von Hunden, Pferden, Kanarienvögeln, Affen, Krokodilen, Delfinen, Katzen, Schildkröten, Kühen, Elefanten, Wildschweinen, Schafen, Waschbären, Koalas, Ziegenböcken und runden Tieren, von denen man nicht mal den Namen kennt. Die Menschen haben ihre Einsamkeit mit Tieren ausgepolstert. Und die Tiere verhalten sich, wie man es von ihnen verlangt: menschlich.

Wie die Deutsche Dogge von Jenny, 29. Sie steht ausdruckslos neben ihrer Besitzerin, mit hängenden Wangen, als sei sie ein fotoscheuer Freund, den man vor das Objektiv gezwungen hat. Andere sitzen auf der Rückbank eines fahrenden Cabrios, mit wehendem Haar, wie der Langhaardackel von Denise, 29. Sie lassen sich, mit der ganzen Geduld ihrer Existenz von Sandra, 26, auf ihren glitschigen Delfinmund küssen. Oder innig umarmen wie der reglose Koala an der Brust von Meike, 27. Sie lassen sich, treuherziger Hund, von Julia, 27, in eine Deutschlandfahne einhüllen. Oder sich liebevoll durch die Wohnung tragen, die Pfoten über die Herrchenschulter gelegt, so wie der Bernhardiner von Christoph, 30. Sie setzen sich mit glänzendem Tigerfell vor Katharina, 23, die hellsichtig den Moment nutzt, um ihren Kopf zu neigen. Sie starren aus entsetzten Wildschwein-Augen Turid an, 29, die ihren Daumen zu einer Alles-super-Geste ausfährt. Sie essen, obwohl sie ein Hund sind, Tuc-Kekse aus der Hand von Li, 29. Sie umklammern den Hals von Adriana, 25, Entkommen unmöglich, denn um ihren Affenhals ist eine Kette gelegt.

Und der Betrachter, der Interessent also, der Suchende, beginnt sich Fragen zu stellen, während er das sieht: Werdet ihr mich streicheln wollen wie diesen Mops? Mich festhalten wie dieses Äffchen? Werde ich meinen Mund hinstrecken müssen wie dieser Delfin? Werdet ihr mich angaffen, wie ihr diesen Chinchilla angafft? Mich füttern wie diesen Ziegenbock? Und, am allerwichtigsten: Werdet ihr mich auf den Arm nehmen, wie ihr diesen Falken auf den Arm genommen habt?

Postkarte in den Urlaub

Hallo, Urlauber, lieber Kollege,

ich schreibe Dir aus dem Büro, im Namen der Zurückgelassenen. Im Namen all jener, die entweder zu spät kamen, als es darum ging, den Sommerurlaub zu beantragen. Oder denen der unschlagbare Vorwand eines schulpflichtigen Kindes fehlt. So viel vorweg: Uns geht’s echt gut hier im Büro, die Stimmung ist super. Wir haben die Jalousien heruntergelassen, das bisschen Sonne brauchen wir nicht.

Du denkst wahrscheinlich gar nicht an uns. Wer will es Dir verübeln? Weil Du eine richtig gute Zeit hast, dort unten. Die Haut Deiner Finger ist wellig, weil Du gerade aus dem Meer kommst. Habe ich recht? Du hast im Ferienhaus die Zeitung eingesteckt, und jetzt sitzt Du da mit Deiner Familie, am Strand. Mit Deiner Frau. Und Deinen zwei schulpflichtigen Kindern. Ihr habt Eure Urlauberhüte auf und riecht nach Sonnencreme und Schweiß.

Sei mal ehrlich, wie oft hattest Du in den letzten Tagen Zweifel an der Idee, im Hochsommer nach Südspanien zu fahren? Brummt der Schädel? Spannt die Haut? Haben wir Mitleid? Ich frag mal kurz die Kollegen.

Nein.

Hier bei uns sind die Gänge so leer, dass wir mit Schreibtischstühlen Wettrennen fahren oder in den verwaisten Büros Verstecken spielen. Wir lachen viel. Auch über Hierarchien hinweg. Du wirst nicht glauben, was gerade passiert. Es entwickelt sich eine ganz neue Nähe zwischen uns. Weil wir halt so wenige sind. Dieses Gefühl, einmalig. Sommer 2016 im Büro, wir waren dabei. Wenn Du zurück bist, dann ist das wieder weg. Aber uns, den Zurückgelassenen, bleibt für immer die Erinnerung an diese wilden Tage im August: als wir in Deinem Büro saßen und mit dem Tacker auf Dein Macbook schossen. Es sind ja praktisch keine Chefs da. Nur der eine noch. Der trägt jetzt Flipflops.

Du schlenderst derweil mit Deiner Leinenhose über den Marktplatz. Deine schulpflichtigen Kinder streicheln eine verlauste Katze. Aber was soll’s? Du siehst das alles nicht so eng, Du bist im Urlaub, Laisser-faire, Dolce Vita. Deine schulpflichtigen Kinder wollen vier Kugeln Eis, sollen sie haben. Dein Urlaubs-Ich ist großzügig und trägt Strohhut. Dir geht es. Einfach. Nur. Gut. Du findest alles »herrlich«. Das Meer. Die Tapas. Die verlauste Katze.

Und ich könnte Dich ja eigentlich in Ruhe lassen mit Deinem dreiwöchigen Glück. Nur ist es so, dass Du uns ja auch nicht in Ruhe lässt. Du schickst uns eine WhatsApp aus einem kleinen Bergdorf, wo Ihr diesen »herrlichen« Frizzante getrunken habt. Du postest ein Bild auf Facebook, das zwei Bierdosen zeigt, die Ihr halb im Sand verbuddelt habt. Und schreibst dazu, als hätten wir es nicht verstanden: SUPER NATURKÜHLSCHRANK. Und da dachten wir, dass es doch schön wäre, wir würden uns auch mal melden bei Dir. Deshalb diese Postkarte.

Heute Morgen bin ich dreimal im leeren Aufzug nach oben gefahren und wieder nach unten. Nach oben. Nach unten. Weil eh keiner merkt, wenn ich nicht arbeite. Und wenn es jemand merkt, dann wird nur komplizenhaft gezwinkert. Gestern habe ich um halb elf angefangen und um halb drei Schluss gemacht. Zwischendurch saßen wir auf der Dachterrasse, haben Wassereis gegessen und uns die peinlichsten Bürogeschichten erzählt. Die eine hat von Dir gehandelt. Du weißt schon. Damals. Na ja. Nimm’s mir nicht übel. Wir erzählen uns gerade einfach alles. Hat nichts mit Dir zu tun. Jeder kriegt sein Fett weg. Beeindruckend, diese Offenheit zwischen uns. Das wird bleiben, bin ich mir sicher. Es ist wie ein Pakt. Wir duzen uns seit gestern. Alle. Ausnahmslos. Wunder Dich nicht, wenn Du zurück bist, wird sicher nicht leicht für Dich. Aber das »Sie« – es hat sich falsch angefühlt. Wie soll das denn gehen – Verstecken spielen und sich dabei siezen?

Wir wollten Dir diese Karte schreiben, um Dir mitzuteilen, dass alles bestens ist. Und dass Du kein Mitleid haben musst. Und auch Schadenfreude lohnt sich nicht. Denn, schau mal: Wenn Du zurück bist, sich Deine Haut dreimal geschält hat, Dein Konto so leer ist wie ein spanischer Strand im Oktober, wenn die kurzen, hässlichen Tage kommen, der Regen, der Herbst, die Dunkelheit, dann sind wir an der Reihe. Dann fliegen wir dorthin, wo es noch warm ist, sehr angenehme 24 Grad. Immer wieder verblüffend, wie die Preise fallen in der Nebensaison. Also. Hab ’ne schöne Zeit! Und immer eincremen.

Liebe Grüße aus dem Büro!

Ich verreise mit meiner Partei, dawai!

Ich hatte gewusst, dass sie kompliziert ist. Sehr alt und stolz und etwas melancholisch. Oft musste ich Spott einstecken ihretwegen. Dann wurde ich laut und kämpferisch. Die Idee, mit ihr zu verreisen, gefiel mir.

Als ich in die SPD eintrat, war ich zwanzig. Ich trat ein mit dem Gedanken, dass unsere Demokratie Parteien braucht. Und mit dem unbefangenen Gefühl, dass es schön ist, zu einer Gemeinschaft zu gehören. Zu einer Familie, einer Kirche, einer Partei.

Mir war nicht bewusst, dass es auch einen SPD-Reiseservice gibt für Mitglieder und Freunde – der Kreuzfahrten auf der Ostsee anbietet, Trips nach Kroatien, nach Island, nach Kuba und Erfurt, zum Schauplatz des ersten Parteitags von 1891. Als ich aber davon hörte, sprach mich eine Tour nach Moskau an. Ihr Motto – »Russland verstehen? Moskau besuchen!« – überzeugte mich schon deshalb, weil es nie falsch sein kann, etwas verstehen zu wollen. Reisen wir nicht genau deswegen?

Am Flughafen in Hannover warten schon ein paar Genossen am Check-in. Man ist sozialdemokratisch direkt: duzen, Händedruck, nach Möglichkeit ein Witz (»Da vorn bitte links« – »Wenn wir nur wüssten, wo links ist«). Claus Wilm, der Reiseleiter, ist ein schmaler, eleganter Mann im Anzug. Tiefe, warme Stimme. Er trägt ein Namensschild und eine rote Umhängetasche.

Am Gate komme ich mit einem Ehepaar aus Hamburg ins Gespräch. Rentner. Genossen. Klug und milde. Mit dem Reiseservice der SPD haben sie mal eine Ostseekreuzfahrt gemacht. Mit Landgang und politischem Rahmenprogramm. Wir unterhalten uns über das Wetter in Hamburg (gar nicht so schlecht, wie alle behaupten) und Olaf Scholz’ Charisma (nicht vorhanden).

Im Flugzeug kollabiert mein erstes Vorurteil. Aeroflot ist viel besser, als ich dachte. Komfortabler Sitzabstand, freundlicher Service, gutes Essen. Landeanflug auf Moskau. Ich lehne mich vor, um aus dem Fenster zu gucken: Plattenbauten, Wälder und Seen. Ich blättere im Programmheft: Es kündigt Ausflüge an, Informationsabende, politische Gespräche, eine Bootsfahrt auf der Moskwa.

Die Reisegruppe komplettiert sich dann erst später im Hotel: 48 Teilnehmer aus ganz Deutschland. Wir werden mit Wodka, Brot und Salz begrüßt. Viele Rentner, viele Ehepaare. Alleinreisende, die sich Gesellschaft wünschen. Nicht alle sind Mitglied der SPD. Die Genossen tragen Sandalen und karierte, kurzärmlige Hemden. Man spricht hessisch, schwäbisch, man berlinert. Zwei Herren äußern Bierdurst. Helmuth mit »th« stellt sich mir vor, ein Norddeutscher, jenseits der siebzig, er reist alleine. Er wird mein Lieblingsgenosse.

Beim Abendessen sitzen wir im Tiefparterre des Hotels auf Holzstühlen und harten Bänken. Ich erzähle Helmuth, dass ich mal Flugangst hatte. Und Helmuth erzählt mir, dass man bewusstlos wird, bevor das Flugzeug zerschellt. Geht ganz schnell. Der Druckverlust. Wir prosten uns zu. Ein leichtes, russisches Bier. Die Gruppe wird langsam warm. Verteilt auf ein paar Tische, eingereiht am Buffet. Stühlerücken, Tellerklappern. Man diskutiert, ob die Reise teuer sei oder nicht. Knapp unter tausend Euro, alles inklusive.

Nach dem Abendessen stehen wir wieder im Foyer, Helmuth und ich. »Noch einen?«, fragt er – den Tisch mit Gläschen und gekühltem Wodka vor sich. Er zieht die erste Flasche aus dem Eis, leer. Er zieht die zweite Flasche aus dem Eis, leer. Er zieht die dritte Flasche aus dem Eis, leer. »Ach schade«, sagt Helmuth.

Den Tagungsraum des Hotels erreichen wir zwei mit ein paar Minuten Verspätung. Kaltes Licht. Die Genossen sitzen in Reihen, wie in der Schule. Sie sind gekommen, um politische Gespräche zu führen, schon am ersten Abend, trotz Flug, trotz zäher Anfahrt mit Moskauer Stau, trotz Müdigkeit. Auf einer Bühne stehen Tische und ein Flipchart. Von der letzten Reihe aus habe ich das Hauptproblem dieser Partei im Blick: Man trägt graues Haar. Man ächzt, wenn man sich setzt. Man hustet.

Was dann passiert, ist schwer zu beschreiben. Auch deshalb, weil ich vor Abflug versichern musste, unsere Gesprächspartner in Russland nicht direkt zu zitieren. Eine Abmachung, die mir sinnvoll erschien. Unsere russischen Gesprächspartner sollten offen sprechen können. Vertraulich, ohne Risiko. An diesem Abend auf dem Podium: drei junge Männer, Vertreter aus dem Moskauer Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung.

In Reihe eins, Namen und Vita erfahre ich später, sitzt Andreas von Bülow mit Ehefrau. Sie machen während der gesamten Reise kein Aufhebens um sich, sind aufmerksam und freundlich. In den Achtzigern war von Bülow Bundesforschungsminister unter Helmut Schmidt. Nach dem 11. September hatte er mit Büchern Erfolg, in denen er nahelegte, die USA hätten die Terroranschläge in New York und Washington selbst organisiert. Sein letztes Buch erschien im rechten Kopp-Verlag.

Der Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung ist im April von russischen Behörden mehrere Stunden lang in St. Petersburg festgehalten und verhört worden. Den zarten Hinweis, dass in Russland womöglich nicht alles gut sei, kontert von Bülow mit der Frage, ob sich die Friedrich-Ebert-Stiftung am amerikanischen Versuch beteilige, Russland mithilfe von NGOs zu destabilisieren. Fragezeichen. Ausrufezeichen. Von Bülow lehnt sich zurück, schlägt die Beine übereinander. Die Genossen applaudieren. Als ein Reiseteilnehmer in einem Statement darauf hinweist, dass die Krim von Russland annektiert worden sei, formiert sich Widerstand in Reihe zwei. Ein älterer Herr meldet sich. Er redet laut und lange.

Die Frage sei doch, ob man den westlichen Medien traue. Man müsse sich auch mal woanders informieren. Auf der Krim lebten ja hauptsächlich Russen, die seien dafür gewesen. Und dann, am Ende seines Statements, fragt er: »Wer soll uns denn helfen in Europa? Doch nicht die Amerikaner, die die Weltherrschaft haben wollen.« Wieder Nicken. Wieder Applaus. Es folgt ein drittes Statement, ein viertes, ein fünftes.

Immer seltener kommt das Podium zu Wort. Es geht jetzt mehr um Deutschland als um Russland. Mehr erklären als verstehen. Mehr reden als zuhören. Es fällt das Goebbels-Wort »Lügenpresse«. Niemand widerspricht, als ein Teilnehmer behauptet, in Deutschland würden Journalisten, wenn sie »etwas Falsches« schrieben, aus ihrer Redaktion fliegen, von einem Tag auf den anderen. Und niemand hat etwas einzuwenden, als ein Teilnehmer aufsteht und vorschlägt, man solle doch mal aufhören, sich über die Krim aufzuregen. Und lieber mal über »die unterdrückten Minderheiten in Israel« diskutieren.

Als der Spuk vorbei ist, es wird langsam Nacht, der Wind fegt die Sommerwärme aus den Straßen, gehe ich mit Helmuth in einen 24-Stunden-Supermarkt. Auf dem Weg torkelt uns ein Obdachloser entgegen. Sein Gesicht blutet. Die Straße hat acht Spuren: Ein Porsche Cayenne, ein ratternder Lada. »Was eine Stadt«, sagt Helmuth. Links Brache, ein historischer Kopfbahnhof, 19. Jahrhundert. Von hier fahren die Züge ins südliche Russland, an die Wolga, nach Baku, Aserbaidschan.

Unser Hotel liegt an einem Seitenarm der Moskwa, eine halbe Stunde Fußweg zum Kreml: das Katerina City, Mittelklasse für Businessreisende, wahlweise mit Wasser- oder Hinterhofblick. Wir setzen uns in Helmuths Zimmer, ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Fernseher, geschlossene Gardinen, und reden über verpasste Chancen, Trennungen, Frauen, Helgoland, Schmerz. Noch ein Vodka Stolichnaya, ablöschen mit Bier. Prost.

Am nächsten Morgen schaut ein prominenter Genosse im Frühstücksraum vorbei: Matthias Platzeck. Er war mal Parteivorsitzender der SPD und ist jetzt Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums. Später, als wir in den Bus einsteigen, sagt ein Genosse, Platzeck sei »supersuper« gewesen. Und dass die SPD Russland jetzt zum Wahlkampfthema mache. Er knallt dabei mit der Faust in die flache Hand. Ich schaue aus dem Fenster.

Wir sind in zwei Gruppen eingeteilt; zwei Busse, zwei russische Reiseleiterinnen mit perfektem Deutsch. Sie haben Mikrofone um den Hals, wir Kopfhörer im Ohr, unaufhörlich rauschen die Informationen. Im Bus, in der Metro, beim Spaziergang durch die Stadt. Es ist, als reisten wir in die Vergangenheit, größtmögliche Umfahrung der Gegenwart. Wir gehen im Gänsemarsch auf eine Kirche zu, mit Stadtplänen in den Händen, die Fremdenführerin vorneweg.

Die Christi-Erlöser-Kathedrale, das wichtigste Gotteshaus der russisch-orthodoxen Kirche, errichtet 1883. Spitze Glockentürme, zwiebelförmige Kuppeldächer. Ikonen, viel Gold. Wir stehen im Inneren, den Kopf in den Nacken gelegt, wir sind andächtig und klein. Fotografieren verboten. Ein Russe verneigt sich vor einer Ikone, küsst sie. Draußen wartet Helmuth, er muss noch Postkarten kaufen.

Wir fahren weiter. Im Bus herrscht Klassenfahrt-Stimmung, ein paar Fotos durchs Fenster. Ein Genosse beugt sich zu seiner Frau: »Schau mal, ich hab ein Selfie gemacht.« Seine Frau lacht.

Wir halten am Prominenten-Friedhof Nowodewitschi. Ein friedlicher Ort, im Schatten dichter Blätter, von Mauern umstellt. Man hört das Rauschen des Verkehrs, als sei die Stadt fern. Wir stehen in kurzen Hosen vor den Gräbern und fotografieren. Die Namen, geschwungen in goldener Schrift auf den Steinen: Nikita Chruschtschow, Nikolai Gogol, Raissa Gorbatschowa, Boris Jelzin. Die alten Toten.

Einen anderen Toten übersehen wir fast. Der Bus rollt auf den Kreml zu, die rote Mauer, die Türme, die Führerin erzählt von damals, als Helmut Kohl Moskau besuchte. Als wir die Moskwa überqueren, sehen wir links auf dem Gehweg Blumen. Im Februar vergangenen Jahres wurde hier, mit vier Schüssen in Rücken und Hinterkopf, Boris Nemzow ermordet, einst Vizepremier unter Jelzin, später Oppositionspolitiker und größter Widersacher Putins. Als wir um die nächste Kurve sind, greift Claus Wilm, der Reiseleiter, zum Mikrofon, um uns darauf aufmerksam zu machen. Hinter mir höre ich einen Genosse fragen, wer das denn sei, dieser Nemzow.

Am Nachmittag dringen wir in der Tretjakow-Gemäldegalerie vom 11. bis ins frühe 20. Jahrhundert vor. Edles Parkett, Stuck an der Decke, mintgrüne Wände. Wir stehen als Pulk vor Ölgemälden: Schneelandschaften, Zaren, Schlachten, Herrscher auf Pferden. Ich gehe einen Raum weiter, die Hände hinter dem Rücken, und bleibe vor einer Büste stehen, als Helmuth neben mir auftaucht. »Weißt du, worauf ich jetzt Lust hätte?«, fragte er. Ich ahne es, löse aber nicht auf. »Auf ein kaltes Bier«, sagt Helmuth.

Im Hof der Galerie gerät die Fremdenführerin mit einer Genossin aus Bayern ins Gespräch, es geht um den jüngsten Versuch des russischen Präsidenten, zwischen Armenien und Aserbaidschan zu vermitteln. »Ich find den Putin ja gut«, sagt die Genossin aus Bayern. Zu Fuß laufen wir zu einer Brücke der Liebe, auf der sich junge Hochzeitspaare fotografieren. Hinter der Brücke wartet der Bus. Ich habe das Gefühl, dass etwas schiefläuft auf dieser Reise.

Unsere russischen Gesprächspartner, die uns am Abend im Konferenzraum des Hotels erwarten, sind Experten für Internationale Politik. Der eine, älter, bärtig, beginnt in exzellentem Deutsch mit Ausführungen über Sanktionen, Wirtschaftskrise, den Konflikt in der Ukraine. Ein Lob für Steinmeier. Ein Lob für Matthias Platzeck. Ein Lob für die Reisegruppe, dass sie nach Russland kommt. Eine Schelte für die europäischen Medien, die sich an der Dämonisierung Russlands beteiligten.

Es fällt der Begriff des »gegenseitigen Informationskriegs«. Die Tür geht auf, ein paar Genossen kommen zu spät. Als es um die proeuropäischen Proteste auf dem Maidan in Kiew geht, ruft ein Genosse, erste Reihe: »Das war ein Putsch!« Russland verstehen, Moskau besuchen, Ukraine erklären.

Am nächsten Tag beschließt die Duma die repressivsten Gesetze seit 1991. Die gesamte digitale Kommunikation soll in Zukunft sechs Monate gespeichert werden. Wir steigen in unseren Bus und fahren zum Kreml, erbaut von Zar Iwan im 15. Jahrhundert.

Vor der Sicherheitsschleuse machen unsere Führerinnen Witze. Die eine: »Hast du dich für Putin schön gemacht?« Die andere, in wehendem Sommerkleid: »Er ist doch gar nicht zu Hause, er ist in Usbekistan.« Hinter den Mauern des Kremls liegt ein roter Teppich aus. Für Moskauer Schüler, die heute ihren Abschluss feiern. Das Machtzentrum wird sie empfangen.

Wir fotografieren Kirchen, eine alte Kanone, den Hubschrauberlandeplatz von Wladimir Putin. Wir staunen über die Kremlmauer, die uns umgibt. Sie ist mehr als zwei Kilometer lang und bis zu zwanzig Meter hoch. Wir wollen Eis kaufen, aber der Eisverkäufer ist nicht da.

Durch einen Torbogen spazieren wir hinaus auf den Roten Platz, vorbei am Lenin-Mausoleum, der Kopfhörer im Ohr knackt, die Gruppe zerfasert, wir vereinbaren einen Treffpunkt. Ich gehe ins Kaufhaus Gum und kaufe Eis am Stil. Auf einer stillen Bank mache ich Notizen. Die Luft im Kaufhaus ist warm und feucht wie in den Tropen. Im Erdgeschoss wirft ein Springbrunnen Wasser in die Luft. Pärchen flanieren, mehr mit Auffallen beschäftigt als mit Einkaufen. Sie lässt ihre Handtasche baumeln, er telefoniert.

Während ich dort sitze, mit Blick auf mein Smartphone, schlendern mir zwei Genossen entgegen. Der eine warnt den zweiten, er müsse aufpassen, was er sage, ich sei von der Zeitung. So laut, dass ich es höre. Dann lächeln sie. War nur ein Scherz. Wir gehen ein Stück gemeinsam, vorbei an Edelboutiquen, teuren Schuhen, teurem Wodka, dem unerschwinglichen Glanz. Wir kehren zur Gruppe zurück und fahren gemeinsam mit der Metro. Feierabendzeit. Wir stehen in prunkvollen Stationen und staunen, unsere Gruppe ist dauernd im Weg, eilende Männer im Anzug, Absolventinnen im Abendkleid. Sie fräsen sich durch den Genossenpulk, etwas genervt, mit ausgestrecktem Arm.

Unsere Führerin weist uns auf den Marmor hin, sie legt ihre Hand auf das Gestein, violett, rot, braun, auf den Onyx aus Sibirien, auf ein Mosaik. In unseren Ohren knacken die Kopfhörer, das Kreischen der U-Bahn. Claus Wilm, der Reiseleiter, weist uns den Weg aus der Station, wie ein Lotse, nur besser gekleidet. Er macht in jedem Moment den Eindruck, als habe er alles unter Kontrolle.

Am Abend liege ich bei weit geöffnetem Fenster auf meinem Bett und schaue Fernsehen. Russia Today zeigt Bilder einer zerbröselnden EU, von dramatischer Musik unterlegt. Merkel, Cameron, Steinmeier. Zwei deutsche Politiker werden befragt. Beide von der AfD. In einem Einspielfilm wird die Frage aufgeworfen, ob auf den Brexit jetzt der Frexit folgt – und der Auxit, der Nexit, der Czexit. Die Schadenfreude im Beitrag ist nicht zu überhören.

Am letzten Tag schwänze ich den Ausflug, die Gruppe fährt zu einem Kloster außerhalb der Stadt. Ich streune planlos durch Moskau, verfahre mich mit der Metro, esse Bœuf Stroganoff mit Kartoffelpüree. Ich bewundere die Bombastik der Sowjetzeit, den Glanz der Zaren. Ich schaue Geländewagen hinterher, die gepanzert sind, als rollten sie durch den Krieg. Und Frauen, die sich vor dem Kreml in Stellung bringen, mit ausgestrecktem Selfiearm. Auf der großen Moskwa-Brücke bleibe ich ein paar Minuten stehen. Hier starb Boris Nemzow. Ein Mann legt eine Rose nieder, er hält inne, er weint.

Haben wir Russland verstanden auf dieser Reise? Wer verstehen will, muss Fragen stellen. Fragen ohne Ausrufezeichen. Das haben wir versäumt. Meine Partei ist mir fremd geworden in diesen Tagen. Wir haben das beschämende Kunststück vollbracht, vier Tage durch Moskau zu fahren, ohne in großer Runde über Demonstrationsrechte zu sprechen, über verfolgte Journalisten, über eingeschüchterte Oppositionelle, über gelenkte Medien, über Polizeiwillkür.

Stattdessen sprachen wir: über den teuflischen Plan der USA, Russland zu zerschlagen. Über verfolgte Journalisten in Deutschland. Die Lügenpresse. Über ungerechtfertigte Sanktionen. Und die falsche Ukraine-Politik der Europäischen Union.

Unsere Reise endet mit einer nächtlichen Bootsfahrt auf der Moskwa. Ich sitze mit Helmuth an Deck, der Wind weht unsere Haare auf, wir trinken dunkles Bier. »Besuchst du mich mal?«, fragt er. Ich nicke. Im Gorki-Park tanzen junge Menschen zu Folklore, der Kreml ist hell angestrahlt. Das Kaufhaus Gum ist mit Lichterketten verziert, als stünde Weihnachten vor der Tür.

Es gibt Reisen, auf denen man einsehen muss, dass etwas zu Ende geht.

Ich will das nicht mehr sehen

Da ist das Bild des Lastwagens in meinem Kopf. Er fährt an der Promenade entlang, ganz langsam. Nizza, die Palmen. In der Dunkelheit nur zu erahnen: das Meer.

Dieser widersinnige Moment, in dem man von der Couch aus, in einer Situation vollkommener Sicherheit, das Grauen beobachtet. Zu fern, um eingreifen zu können. Zu nah, um nicht schockiert zu sein.

Der Abend begann damit, dass ich herumlag und gelangweilt durch meine Twitter-Timeline scrollte, neue Nachrichten vom Transfermarkt, Mario Götze zum BVB,Pokémon Go, schlechte Witze über Donald Trump, der ganze Quatsch, als plötzlich ein Bild vorbeischwamm: Da lehnt sich ein Mann an eine Palme, das Hemd aufgeknöpft, offenbar verletzt. Hashtag: Nizza.

Ich stand auf und machte den Fernseher an, nachtmagazin. Wie die Kamera des Reporters schwenkt und der Lastwagen schneller wird. Rennende Menschen. In meiner Twitter-Timeline rauschte ein Video vorbei, geteilt von der Chefredakteurin derBild, es lief automatisch an. Ein Mensch im Blut, seine verdrehten Beine. Die Straße voller Leichen.

Es war Mitternacht. Leuchtende Bildschirme. Die Stille meines Wohnzimmers. Diese Bilder. Ich hatte schon viele solcher Bilder gesehen, meistens saß ich auf meinem Sessel: Amokläufe, Terroranschläge, Massaker. Jetzt fragte ich mich zum ersten Mal: Warum schaue ich mir das an?

Bis zu diesem Abend war das für mich Alltag. Man informiert sich, was los ist. Und natürlich gehören Bilder dazu, auch drastische Bilder. Denn was stellt die Wirklichkeit direkter dar? Mein politisches Gedächtnis ähnelt mehr einem Fotoalbum als einem Buch.

Es beginnt an einem Dienstag im Herbst 2001. Ich war vierzehn. Wir saßen in unserem Dorf vor dem Fernseher, die seltsam stillen Eltern, mein Bruder, und starrten auf den Sekundenzeiger. Er nahm sich alle Zeit, Sekunde für Sekunde, jenem Moment entgegenzuschreiten, 19 Uhr, ZDF heute, in dem die Nachrichtenmelodie zum Crescendo anschwoll, sich die leuchtende Grafik auflöste, Ziffernblatt auf Weltkugel, und jenes Bild erschien, als öffnete sich ein Vorhang.

Die brennenden Zwillingstürme. Der stahlblaue Himmel. Feuerwehrautos im Staub. Menschen, die aus Fenstern springen. Wie sie kopfüber dem Asphalt entgegenfliegen. Was sie wohl denken, während sie fallen? Ich saß vor dem Fernseher, als dürfte ich, wenn ich das Geschehen begreifen wollte, kein Detail verpassen: das zurückgelassene Auto der Entführer, das Teppichmesser, der Kampf mit den Passagieren. Mit jeder neuen Sendung kamen neue Einzelheiten dazu.

Ich erlebte das Gefühl von Unmittelbarkeit: Ich sah die Nachricht im Moment ihres Entstehens. Was zwingt mich seit damals hinzusehen, wenn etwas Großes passiert? Ist es Voyeurismus? Lust am Schrecken? Oder Empathie? Wahrscheinlich ein bisschen von allem. Am stärksten war damals das Gefühl, mit der Welt eins zu sein, verbunden durch die Katastrophe.

Dabei waren die Bilder damals so viel langsamer als heute. Wie wir dort saßen und warten mussten, während die Nachrichtenredakteure entschieden, welche Bilder wir sehen sollten. Die Behäbigkeit des Sprechers, das Rascheln seiner Notizen. Ich erinnere mich an meine Ungeduld. Nachrichten, das hieß damals: ein Fenster zur Welt, das sich öffnete – und wieder schloss.

Ich aber wollte selbst entscheiden, was ich wann sah. Der technische Fortschritt half mir dabei: Das Internet wurde schneller und besser. YouTube ging an den Start. Da ist das Bild der Brüder Kouachi in meinem Kopf; die Mörder von Charlie Hebdo. Wie sie ihren Citroën in einer Pariser Straße parken, als sei das Routine. Ihre schwarze Montur, die Waffen im rechten Winkel vom Körper gestreckt. Der federnde Gang. Ihre Stimmen überschlagen sich vor Freude. » Nous avons vengé le prophète! Nous avons vengé le prophète! Nous avons vengé le prophète! « Ich guckte den ganzen Tag fern, sprang von ZDF zu Phoenix und von Phoenix zu NTV. Und als die Brüder tot waren, in einem Vorort erschossen, sah ich mir Augenzeugenvideos auf YouTube an.

Da sind die Bilder aus dem Bataclan. Der Schlagzeuger trommelt noch, da ist die erste Salve zu hören. Der Gitarrist spielt weiter. Das Video bricht ab. Ich lag wach bis zum Morgengrauen, griff zum Smartphone. Legte es weg. Schaltete den Fernseher ein. Und wieder aus.

Da ist das Bild des rauchenden Flughafens, Brüssel. Verwaiste Koffer, fliehende Menschen. Ich guckte Phoenix, drei Stunden am Stück, und umklammerte mein iPhone.

Am 11. September waren es noch Kameramänner und ein paar Hobbyfilmer, die ihre Kamera nach oben rissen, als sie das ohrenbetäubende Grollen der Triebwerke hörten. Inzwischen hat sich der Reflex des Draufhaltens demokratisiert. Man zückt das Smartphone, wenn es knallt. Als habe jeder Einzelne eine Reporterpflicht gegenüber der Welt. Was denkt ein Mensch, der Verletzte filmt, statt ihnen zu helfen? Und was fühle ich, wenn ich mir das anschaue?

Vielleicht will er, unverhofft ins Chaos geraten, seiner unfreiwilligen Zeugenschaft einen Sinn verleihen. Er wechselt in jenem Moment, in dem er sein Smartphone zückt, von der Passivität des Beobachters zur Aktivität des Chronisten. Er, der Produzent, steht zwischen Leichentüchern und Blut. Ich, der Konsument, sitze im Wohnzimmer.

Uns verbindet die Hoffnung, das Grauen sei mit Bildern zu zähmen. Als könne eine Gemeinschaft des Hinsehens weiteres Unheil abwenden. Unsere Vorstellung vom Bösen ist traditionell mit der Dunkelheit verknüpft. Mit den düsteren, unbeobachteten Ecken. Mit der Nacht. Wir glauben, das Grauenhafte sei zu vertreiben mit Wachsamkeit. Terroristen greifen uns aber nicht an, weil wir weggucken. Sie greifen uns an, weil wir hinsehen. Unser Reflex, die Tat zu filmen und zu verbreiten, ist Teil ihres Plans. Terror ist ein Akt des Exhibitionismus.

Manchmal tippe ich das Datum bei YouTube ein: 11. September 2001. Dann sehe ich noch mal, wie sich das Flugzeug neigt. Noch mal, wie der Krater im Hochhaus klafft und raucht, als habe ein wütender Riese seine Faust in die Fassade gerammt. Die brennenden Türme. Das Flugzeug.

Ich packe die Bilder an, immer wieder, von allen Seiten, wie eine kaputte Umzugskiste. Ich bekomme sie nicht zu greifen. Aber ich werde sie auch nicht los.

Da sind Bilder tanzender Menschen, mein Alter ungefähr. Ihre Fröhlichkeit. Eine Demonstration in Ankara, 10. Oktober 2015. Sie halten sich an den Händen. Dann ein Knall, schwarzer Rauch, eine Feuersäule. Zerfetzte Fahnen, abgedeckte Körper. Ich sah die Bilder auf YouTube. Spulte zurück. Hörte noch mal den Knall, sah den aufsteigenden Rauch. Ich fragte meinen Vater, er ist Arzt, wie die jungen Menschen wohl gestorben seien, wie schmerzvoll und wie schnell.

Während wir am 11. September, in einer Zeit vor Smartphones, Twitter, Facebook, YouTube, Periscope, noch bewusst zur Fernbedienung greifen mussten, um am Geschehen teilzuhaben, schwimmen wir jetzt durchgängig im Nachrichtenstrom. Es gibt kein Fenster mehr, das sich öffnet und wieder schließt. Alles fließt: die Twitter-Timeline, die Facebook-Timeline, der Periscope-Livestream, selbst startende YouTube-Videos. Die Bilder des Grauens schwimmen warnungslos vorbei wie eine Wasserleiche.

Ich dachte, ich hätte Kontrolle über die Bilder. Dank Internet und digitaler Revolution. In Wahrheit aber haben die Bilder längst Kontrolle über mich. Ich träume von ihnen. Sie tauchen auf, wenn ich einen weißen Lastwagen sehe. Oder eine schwarze Fahne. Ich will nicht mehr.

Beim nächsten Anschlag – möge er nicht kommen – werde ich, wenn es irgendwie geht, mein Smartphone ausschalten und spazieren gehen. Welchen Sinn soll es haben, dass ich diese Bilder in meinen Kopf lasse, von enthaupteten, gesprengten und überfahrenen Menschen?

Es gibt Leute, die fordern, wir müssten hinsehen. Manche von ihnen sitzen in Boulevardredaktionen. Sie sagen: Verschließt nicht die Augen! Doch bloße Augenzeugenschaft hilft niemandem. Und Entsetzen behindert manchmal das Verstehen.

Früher erreichte uns die Nachricht vor dem Bild. Inzwischen hat das Bild die Nachricht abgehängt: Uns erreichen brutale Sequenzen, die wir zu entschlüsseln haben. Immer mehr und immer schneller. Jeder für sich. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass es früher besser war. Damals, als sich Ulrich Wickert erst sortieren musste, bevor es losging. Als der Gong der Tagesthemen ertönte. Da gab es auch schlimme Bilder. Aber der Wahnsinn war eingehegt. Und am Ende kam immer das Wetter.

Vielleicht ist es Zeit für die Wiederentdeckung eines alten Gefühls. Wir haben uns im Laufe des menschlichen Fortschritts, aus guten Gründen, von ihm entfernt: der Scham. Sie könnte uns in Zeiten der Terrorbilder, der schonungslosen Unmittelbarkeit, Sensibilität verleihen für die Frage, wann wir hinschauen dürfen. Und wann wir besser wegschauen. Wenn wir der Grausamkeit begegnen, dann ist es in Ordnung, mal den Blick zu senken. Wir sind schließlich beschämt. Beschämt über das, was wir Menschen uns antun. Wegschauen – auch das ist Mitgefühl.

Wie wird man so cool wie dieser Mann?

In der Politik ist Lässigkeit ein schmaler Grat. Wer auf ihm wandelt, ist permanent gefährdet, in die Höllenfeuer der Lächerlichkeit abzustürzen. Karl-Theodor zu Guttenberg zum Beispiel: wie er sich einst ein AC/DC-Shirt über das Hemd zog, oder wie er mit Pilotenbrille im Dunst von Kundus stand. Eindeutig zu gewollt.

Barack Obama, klar, das kann man vor seinem Abgang noch mal sagen: Lässiger geht es nicht. Trifft, auch wenn eine Kamera auf ihn hält, mit souveränem Sprungwurf den Korb. Oder er verkündet, wie letzte Woche geschehen, die Bilanz seiner Regierungszeit als Slow-Jam-Session in Jimmy Fallons Tonight Show .

Und dann sein Nachbar im Norden, Justin Trudeau, Kanadas Premierminister. Der immer aussieht, als komme er gerade vom Strand. Der tätowiert ist und boxt. Trudeau, der Lässigkeitsstreber.

Spät, aber entschieden greift jetzt auch Frank-Walter Steinmeier, unser Außenminister, in den Zehnkampf der Lässigkeit ein. Das Auswärtige Amt ist neuerdings auf Instagram, wie Justin Trudeau, wie Barack Obama. Und da Instagram die Plattform der Fitten und Jungen ist, begrüßt Steinmeier die Abonnenten des Kanals per Video, ungelogen, mit diesem Satz: »Hey, Ladies and Gentlenerds, freshness ist alles!«

Man sitzt da, verstört und starrt: Frank-Walter findet, dass freshness alles ist. Man schaut es ein zweites Mal an. Immerhin, das sieht man: Der Minister hebt ironisierend die Augenbraue. Ein kleines, sympathisches Signal der Verzweiflung. Als wolle der Außenminister die Botschaft mitsenden: Leute, mir kommt das auch seltsam vor. Aber mein Social-Media-Team hat mich überredet.

Und es ist ja auch eine schwierige Mission: als Sozialdemokrat lässig zu sein. Zu sehr wird die SPD mit Sigmar Gabriel assoziiert. Mit Stehtischen und Bratwürsten, mit rotköpfigen Gewerkschaftern. Mit einer verdammt mittelmäßigen Optik. Da fällt schon einer wie Heiko Maas aus der Reihe, der Bundesjustizminister, nur weil er morgens in einen Anzug steigt, der ganz gut passt. Und weil er mit seiner Schauspielerin rote Teppiche abschreitet, ohne zu stolpern. Oder Katarina Barley, die Generalsekretärin, über die Moritz von Uslar neulich in dieser Zeitung schrieb: »Sie sieht, Entschuldigung, gar nicht wie eine SPD-Politikerin aus, irgendwie eleganter, internationaler, besser gekleidet.« Aber es geht nicht nur um Kleidung. Es geht um viel mehr.

Lässig ist, wer sich eigener Sprache bedient. Wer selbstbewusst genug ist, sein Glück nicht an Ämter zu hängen. Mut ist lässig. Selbstironie ist lässig. Lässig ist ein unbeirrter, aber schlendernder Gang. Auch Sozialdemokraten können lässig sein. Das beweist Christian Kern (SPÖ), seit vier Wochen Bundeskanzler in Österreich. Der wahrscheinlich coolste Regierungschef Europas. Ein Quereinsteiger. Da gibt es dieses Bild auf seinem Instagram-Kanal. Man will das sofort Frank-Walter Steinmeier zeigen. Denn das ist wirklich fresh .

Unscharfer Spiegel einer Vespa im Vordergrund, Säulen im Hintergrund, mediterrane Anmutung. Christian Kern, in der Mitte des Bildes, geht durch Wien und hat dabei was unübersehbar Agentenhaftes. Was nicht nur die Sonnenbrille macht und der leicht geöffnete Mund, als sei er notfalls zum Küssen bereit, sondern die gesamte Haltung, die Ruhe und Entschiedenheit seines Gangs. Er schlendert in das Chaos der österreichischen Politik, FPÖ, lahme Wirtschaft, kaputte Volksparteien, und alles an ihm sagt: Ich regle das mal. Und währenddessen schleicht sich Werner Faymann weg, der Ex-Kanzler, ein Mann mit dem Charisma eines Eichhörnchens.

Selbstverständlich wäre das nicht mehr als ein Bild, hätte Christian Kern nicht eine fulminante Antrittsrede vor dem Parlament gehalten. Für Mut, Weltoffenheit, gegen Angst. Eine Rede für die Abgewendeten und Ermüdeten. Für jene, die sich wundern über die Ästhetik der Berufspolitik: die Sprache, Gesten, Rituale.

Politik wird nicht lässig, wenn man sie schräg fotografiert. Lässig wird sie erst, wenn sie Lust macht auf die Zukunft. Na, SPD, wie wär’s mal mit einem Praktikum in Wien?

All you can read

Dinge gehen nicht einfach verloren. Sie verschwinden nur, um an anderer Stelle wieder aufzutauchen. So ist es mit Strümpfen. Mit Autoschlüsseln. Und so ist es auch mit der Völlerei. Sie ist verschwunden, verdrängt vom Selleriesmoothie. Und wieder aufgetaucht, abseits von Teller und Besteck.

Es gab mal eine Zeit, da war der wohlgenährte Mensch ein kulturelles Leitbild. Ludwig Erhard, Kanzler des Wirtschaftswunders, war die Galionsfigur eines Landes, das nicht mehr vor der Sattheitsgrenze haltmachen musste. Man rauschte mit offenem Mund in die Fleischtheke, man futterte sich ins Glück. Das letzte Denkmal dieser Ära fiel 1998, pünktlich zum neuen Jahrtausend, Saumagenkanzler Helmut Kohl. Über ihn erzählt man sich, er habe während seiner Kanzlerschaft zur Beruhigung Butter gegessen. Pur.

Das Leitbild hat sich gewendet. Der Wohlgenährte ist nicht mehr wohlgenährt. Er gilt als fettleibig. Er hat sich der Versichertengemeinschaft gegenüber zu rechtfertigen für seine Maßlosigkeit. Völlerei ist kein Kennzeichen für Wohlstand mehr. Sondern: für Unterschicht, Disziplinlosigkeit, white trash. Die Abgemagerten damals: beäugte Heimkehrer aus dem Krieg. Die Abgemagerten heute: gefeierte Helden der Schlacht gegen den Schweinehund. Auf Instagram überbieten sie sich mit dem Hashtag #healthyfood. Fotos von Radicchiotellern, garniert mit Putenbruststreifen. Fotos von Erdbeerscheiben auf Puffreiswaffeln. Das Motto heißt eat smarter, was alles sagt: Verstand besiegt Körper, Vernunft schlägt Völlerei.

Doch wir wären keine Menschen, mit mehr Schwächen als Stärken und mehr Hunger als Disziplin, hätten wir nicht längst für Kompensation gesorgt. Die sechste Todsünde ist nicht verschwunden, nur weitergezogen. Die Völlerei hat sich ihren Weg gebahnt, hinein ins 21. Jahrhundert, ins Herz der Informationsgesellschaft. Den Heißhunger gibt es noch, wir stillen ihn nur anders, zeitgemäß: mit Nachrichten. In unserem Kühlschrank brennt auch nachts das Licht.

Nachrichtenlagen kommen und gehen, immer schneller, immer heftiger, im Rhythmus unserer Fressattacken. Charlie Hebdo, Griechenland, Germanwings, Flüchtlinge, Anschläge in Paris, Übergriffe in Köln, Anschläge in Brüssel. Das, was wir da fressen, hat einen Namen: information nuggets. Was nicht nur zufällig nach Fast Food klingt.

Wir konsumieren Details, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen. Der Liveticker garantiert permanenten Nachschub. Das ist das Seltsame an unserem Konsum: der exzessive Hunger nach Einzelheiten. Unser Interesse löst sich vom eigentlichen Anlass der Berichterstattung. Die Nachricht ist längst Selbstzweck. Essen und vergessen. Der urbane News-Junkie starrt auf sein Smartphone, während er in der Brennnesselsuppe rührt. Wir lassen uns vom Display einsaugen, egal, was um uns herum passiert; morgens in der U-Bahn, zwischen zwei Gängen im Restaurant, im Kino und auf dem Klo.

Was schrien die Kouachi-Brüder, als sie die Redaktion von Charlie Hebdo stürmten? Wann war Andreas Lubitz das letzte Mal in Behandlung? Was sagte Varoufakis, als er auf sein Motorrad stieg? Waren die Täter von Köln vorbestraft? Was denken eigentlich die Anwohner in Molenbeek? Und wie viel Uhr war es, als die Verbalnote aus Ankara im Auswärtigen Amt eintraf?

Mit Wissensdurst hat das nichts mehr zu tun. Die Bilder, Explosionen, Splitter, Blut, haben sich als fluoreszierende Fettschicht auf unsere Seele gelegt. Der Berufsverband Deutscher Psychologen rät inzwischen, sich nicht im Minutentakt von Nachrichten berieseln zu lassen, sondern sich weniger und gezielter zu informieren.

Aber vielleicht ist die Information gar nicht unser Ziel. Wir tauchen in den Nachrichtenstrom ab, als sei er eine Netflix-Serie. Wir konsumieren Details über die Welt, um uns vor der Welt zu verstecken.

Brauchen wir eine Obergrenze für Menschen?

Wäre das Internet ein Wesen, es wäre Gollum, der verhaltensgestörte Schrumpfmensch aus Herr der Ringe. Es wütet und keift in einem Moment. Und im nächsten Moment wird es ganz klein und niedlich.

Da fordern Menschen auf Facebook, Flüchtlinge müssten vergast werden, und posten gleichzeitig weich gezeichnete Kinderfotos, mit Herzen verziert: Auch Rassisten bekommen Babys. Da sieht man neben Pausenhof-Beschimpfungen, wie fett du bist, wie hässlich du bist, Duckface-Selfies – Selbstporträts junger Frauen, die eine Schnute ziehen, bis sie süß aussehen wie eine Ente. Da finden sich, zwischen all der Galle, dem Keifen, dem Hass, Millionen von Katzenvideos: süße Katzen, tollpatschige Katzen, flauschige Katzen.

Das Verhältnis von Mensch und Katze scheint ohnehin ein seltsames, schon im Analogen, vor allem in diesem Land. Nicht erst seit Akif Pirinçci phänomenal erfolgreiche Katzenkrimis schrieb und dann ins Genre Hass wechselte. Nicht erst seit Beate Zschäpe im November 2011 ihre Katzen Heidi und Lilly in zwei Körbchen aus ihrer Zwickauer Wohnung trug und hinter ihr das Haus explodierte. Nicht erst seit Helge Schneider mit Katzenklo eine Hymne auf das beängstigend Profane schrieb, das brutal Alltägliche, und der deutsche Spießer mitschunkelte, blind und taub für Ironie.

Im Digitalen jedoch, im Gollum-Internet, ist das Ganze weit extremer. Da sind sich Flausch und Menschenhass ganz nah. Das Internet ist hassverseucht. Aber es ist mindestens genauso katzenverseucht. Man könnte neun Leben damit verbringen, auf YouTube Katzenvideos zu schauen.

Das Video Lachende Katzen zum Beispiel, 20 Millionen Aufrufe. Das Video Lustige Katzen Teil 1, 2,7 Millionen Aufrufe. Das Video Sprechende Katzen, 2,1 Millionen Aufrufe. Oder das Video Witzige Katzen, 1,9 Millionen Aufrufe. Oder das Video Katze streichelt Baby in den Schlaf, da sieht man, mein Gott wie süüüüß, wie eine Katze mit ihrer Pfote einem Kleinkind über den Kopf streichelt, bis es die Äuglein schließt, dazu Gitarrenklänge, 1,8 Millionen Aufrufe.

Katzenvideos haben es in den USA längst in die Hochkultur geschafft. Das renommierte Walker Art Center in Minneapolis veranstaltet regelmäßig das Internet Cat Video Festival, eine Open-Air-Veranstaltung mit 10 000 Besuchern. Da werden Katzenvideos ausgestellt – wie sonst Skulpturen von Alberto Giacometti. An diesem Freitag kommt das Katzenvideo-Festival nach Deutschland, ins NRW-Forum nach Düsseldorf. Gewöhnlich hängen hier: Warhol, Newton, Kippenberger, Corbijn. Auf Facebook melden bereits über 1000 Gäste ihr Interesse an.

Die Rheinische Post kooperiert und ruft ihre Leser auf, ihr bestes Katzenvideo einzuschicken. Der Gewinner wird, laut Veranstalter, mit dem Golden Kitty Award ausgezeichnet und erhält Ermäßigungen bei einem Hersteller für Luxus-Katzenmöbel. Auf der Shortlist steht beispielsweise eine gelb gescheckte Katze, die sich in einem Tunnel aus Luftpolsterfolie verirrt, die Kamera folgt ihr, im Hintergrund überschlägt sich menschliches Kichern. Sehen wir da den Geheimfavoriten?

Wenn das Internet Gollum ist, dann heißt das: Wir sind Gollum. Das Internet ist nur eine Abbildung, ein Spiegel sozialer Realitäten. Dann sind wir: verhaltensgestört, manisch, voller Hass auf der einen und kindlicher Sentimentalität auf der anderen Seite. Wie viele der deutschen Nachbarn, die gegen Ausländer demonstrieren und Flüchtlingsheime anzünden, kümmern sich rührend um ein Haustier, säubern das Katzenklo, bürsten den Kater? Auch sie schütteln sich vor Rührung, wenn sie sehen, wie die Katze das Baby in den Schlaf streichelt, mein Gott, das ist wirklich – soo – süß. Sie sind zur gleichen Zeit überempfindsam und gefühlskalt.

Kitsch ist per Definition der Fetisch einer unreflektierten Sentimentalität. Die Faszination für das Süße, das Niedliche, das Liebliche tritt brüderlich auf mit Grausamkeit und Hass. Wenn nichts mehr hilft, dann ist das der politische Konsens in diesem Land: die süße, tollpatschige Katze.

Es gibt acht Millionen Hauskatzen in Deutschland. Sie scheißen in Gärten, verstopfen das Internet, sie belasten die Feuerwehr und fressen wehrlose Vögel.

Vielleicht sollten wir mal über eine Obergrenze sprechen.

Lob des Katers

Der Kater beginnt, wie immer, mit Dunkelheit und einer Ahnung von dem, was war. Gekrümmt wie ein Embryo liege ich da und öffne die Augen, hineingehalten ins Nichts.

Licht dringt durch die Gardinen. Ich reibe mir die Augen: Das ist also die Welt.

Das, was vor Stunden geschah, erscheint fern. Als sei es in einem vorherigen Leben passiert. Wie wir im Nebel standen, sie ihre Arme in der Nacht ausbreitete, ihre Haare über die Schulter warf. Unsere glühenden Zigaretten, die Kreise in die Finsternis malten.

Der Wodka.

Ich strecke die Beine von mir. Das Gefühl, ohne Haut zu sein. Die Scham. Auf dem Parkettboden liegen eine Flasche, Schuhe und Zigarettenschachteln. Ich wache im Klischee auf. Es beginnen die Stunden der Buße.

In einem Tatort, den ich neulich sah, kommt ein Kommissar morgens zur Arbeit, Sonnenbrille auf der Nase, und begrüßt die Kollegin, er lässt sich Kaffee und Aspirin geben. Kamera aufs Glas, er wirft die Tablette ins Wasser, die Tablette zergeht. Der Kommissar verschwindet im Büro, Hand an der Stirn. Der Kommissar hat gesoffen, sollen uns diese Bilder sagen. Jetzt hat er einen Kater.

Die Folge einer leichten Alkoholvergiftung, medizinisch betrachtet. Der Kater äußert sich durch Symptome wie starker Durst, Nachdurst genannt, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Schwächegefühl. Er führt zu Konzentrationsschwierigkeiten, zu depressiven Verstimmungen, zu Licht- und Geräuschempfindlichkeit, zu Schlafproblemen, Zittern, Ängstlichkeit. Die Symptome treten Stunden nach dem Alkoholkonsum auf. Sie sind am stärksten, wenn der Alkohol schon vollständig abgebaut ist.

Der Kater ist das Ende des Exzesses, aber nicht sein Ziel. Wir wollen nicht den Kater, wir wollen den Rausch. Der Rausch bringt uns einander näher, er verbindet. Er lässt uns vergessen, was ist. Erst geht es bergauf, alle gemeinsam, Entgrenzung, Verbrüderung, Hände zum Himmel. Doch wenn der Kater kommt, der Aufprall, der Tag danach, sind wir allein.

Der Kater ist die verborgene Rückseite des Rauschs. Die Rückseite der Geburtstagsparty, der Weihnachtsfeier und der Silvesternacht. Er ist der Hinterhof der alkoholbetriebenen Leistungsgesellschaft. Work hard, party hard .

Der Rausch ermöglicht uns den kurzzeitigen Ausbruch oder zumindest: die Illusion des Ausbruchs. Danach liegen wir im Halbdunkel rum und kotzen.

Unser Umgang mit den unmittelbaren Folgen des Trinkens ist schamhaft. Wir verdrängen den Kater, wie wir Krankheiten verdrängen, Schwäche, Niederlagen. Wir verkleinern ihn zu einer Nebenwirkung. Die Brigitte gibt Anti-Kater-Tipps, »die wirklich helfen«: heiße Bouillon, saure Gurken, frische Luft, duschen statt baden. DieApotheken Umschau rät, dem Kater »Saures zu geben«: Rollmops, Laugengebäck, Heringssalat. Fit for fun empfiehlt, den »Kater-Kampf« mit einer Heiß-Kalt-Dusche einzuleiten.

Dabei ist der Kater keine Plage, die es zu bekämpfen gilt. Er ist eine existenzielle Erfahrung. Viel mehr noch als der Rausch selbst. Der Rausch ist unwirklich. Er verfliegt. Der Kater ist wahr. Er dauert. Der Rausch führt zu Enthemmung, erhöhter Kontaktbereitschaft, Selbstüberschätzung. Der Rausch vergrößert den gegenwärtigen Moment wie eine Lupe. Bis wir nichts mehr sehen außer uns im Hier und Jetzt. Der Kater invertiert den Rausch. Er macht uns zerbrechlich, empfindsam. Er hindert uns daran zu funktionieren. Verkaterte Menschen führen stundenlang Gespräche, weil sie zu mehr nicht in der Lage sind. Sie sind friedlich und klug.

Wir sollten den Kater umarmen. Er ist die Einkehr nach dem Ausgehen. Er führt zu seltenen Momenten der Reduktion, da er uns lahmlegt und die alltägliche Betriebsamkeit unmöglich macht. Und ohne Betriebsamkeit kommen die Fragen, die kleinen und die großen.

Auf einem Blog las ich neulich diesen Satz: »Das Schönste an Reue ist der Abend davor.« Zuerst gefiel er mir, ich trug ihn einige Tage mit mir herum. Inzwischen aber weiß ich: Das Schönste am Abend ist die Reue danach.

Einmal erwachte ich in Istanbul, als der Muezzin zum Morgengebet rief, es wurde gerade hell. Ich hatte bis kurz nach Mitternacht, vielleicht auch länger, mit einem Freund Raki getrunken, eine Flasche, vielleicht auch zwei, mit Blick auf die Stadt. Wir hatten kurdische Volkslieder gehört und getanzt, die Arme ausgebreitet wie die Christusstatue in Rio.

Jetzt lag ich auf diesem Bett, in Boxershorts, ohne Kissen und Decke, es wurde Tag, heiß, ein zweiter Muezzin rief und ein dritter, sie überboten und überschlugen sich, der Hall schwemmte die Straßen, ich hatte Schweiß auf der Stirn. Draußen segelten Möwen vorbei. Ich schloss das Fenster, die Gardinen. Doch die Hitze blieb.

Das Gefühl, dass die Kopfhaut zerreißt, die Augäpfel wachsen. Als hangelten sich Bergsteiger durch mein Hirn, mit Steigeisen und Spitzhacken. Als sei jeder Knochen geprellt, jeder Muskel gezerrt.

Ich wankte in die Küche, meine Knie waren weich wie nasser Ton. Geblendet von der Morgensonne, sah ich, mit vorgehaltener Hand, in Richtung Hafen. Ein Schiff legte ab, die Passagiere an Deck winkten. Sie waren Hunderte Meter entfernt, doch ich hatte das Gefühl, dass sie mich ansahen: vorwurfsvoll. Meine Augen brannten.

Ich hielt mich am Türrahmen fest, der letzte Halt. Ich öffnete den Kühlschrank. Kein Wasser. Ich öffnete das Gefrierfach und hielt meinen Kopf in die herausströmende Kälte. Ich füllte ein Glas mit Leitungswasser, es war trüb und schmeckte nach Eisen. Mein Magen krampfte. Meine Kräfte reichten nicht, um mir Kleider und Schuhe anzuziehen, sie reichten nicht, um im Kiosk Wasser zu kaufen. Ich legte mich wieder hin.

Aufhören, dachte ich. Wann hört das endlich auf?

Ein Tag mit Kater ist wie ein Menschenleben in Miniatur: Morgens schlägt man die Augen auf, wird geboren. Das Gefühl, zum ersten Mal auf dieser Welt zu sein. Das erste Mal Licht. Tränen, weil es dort, wo man herkommt, schöner war. Dann liegt man da, als Tatsache, als Haut, als Knochen, als Schmerz. Mit zerknautschtem Gesicht und der rätselhaften Aufgabe, ein Leben zu führen. Das erste Mal stehen. Staunend, orientierungslos. Ausgehungert.

Irgendwann geht es besser, der Kater weicht der Müdigkeit. Man hält jetzt durch, gekleidet und ernst, man ist erwachsen. Und nachts, in der Dunkelheit, als sei man am Ende des Lebens angelangt: das Verblassen der Schmerzen. Man macht das Licht aus, zieht die Decke bis zum Kinn. Das erlösende Wissen, es überstanden zu haben.

Wie lang so ein Tag sein kann.

In Istanbul hörte ich Marktschreier, hupende Taxis, wieder den Muezzin. Ich drückte meinen Kopf ins Laken, trockener, bitterer Mund. Ich dachte an Menschen, die ich enttäuscht hatte, verpasste Chancen, mein überzogenes Konto, Krankheiten, die Möglichkeit eines Erdbebens. An eine Frau, die ich vermisste. Ich fühlte mich lächerlich. Ich dachte an Wasser; Wasserfälle, Gebirgsbäche, Regen. Ich stand auf, legte mich hin, duschte, kauerte im Bad.

Zurück im Bett träumte ich, mein Schlaf war ungeschützt und flach. Und als ich wach wurde, atmete ich tief ein und aus: Irgendwann mal hatte ich gelesen, dass man Alkohol vor allem über die Atemluft abbaut.

Ich atmete ein und aus. Ein und aus.

Es wurde Abend, die Sonne senkte sich. Vom Bosporus fegte sanfter Wind durch die Gassen, er trug die Hitze aus der Stadt. Ich setzte einen Fuß auf den Boden und einen zweiten. Ich öffnete alle Fenster und putzte meine Zähne. Meine Muskeln waren schwer und warm. Ich hatte den Geschmack von Pfefferminz im Mund.

Du bist okay, dachte ich. Ich bekam Gänsehaut.

Ich zog mich an, legte einen Schal um meinen Hals. Ich fühlte mich, als sei ich verliebt. Der Wind wehte meine Haare auf. Ich ging durch die Straßen und sah, wie die Menschen Fisch aßen und Raki tranken, als feierten sie mein Überleben. Ich wollte sie umarmen. Ich setzte mich an den Straßenrand und aß Börek mit Puderzucker, der Tee war süß, und ich spürte, wie er, Schluck für Schluck, meinen Magen streichelte.

Ich ging einige Schritte, die Hände in den Hosentaschen. In einer Kirche saß ich minutenlang und schwieg, bis die Müdigkeit kam und sich um mich legte. Ich sah, wie Jesus am Kreuz hing, den Kopf geneigt und Blut an den Fersen. Er sah mich an, als wolle er mir sagen, dass alles gut sei.

Ich zündete eine Kerze an. Für alle, die vor Kloschüsseln knien. Für alle, die in Duschen kauern. Ihr seid nicht allein.

Ich habe gelernt, den Kater zu lieben. Er hat mir bewiesen, dass jeder Schmerz vergeht.

Jeder Satz ein Schmerz

Ich habe das Lesen verlernt. Die Buchstaben verschwimmen. Ich lese und fühle mich verloren in einem Ozean an Text: “Ulysses“ von James Joyce, nur wenige Seiten gelesen, weggelegt. “Der Verlorene“ von Hans-Ulrich Treichel, für sehr unterhaltsam befunden, abgebrochen, weggelegt. Die Zeilen vibrieren, die Zwischenzeilen kommen mir entgegen, ich ertrinke im Text und blättere vor, ich zähle Kapitel: Wie lang noch? Ich will schlafen.

Ein Buch über die Bundesliga, „Spieltage“, nicht reingekommen, abgebrochen, verstaubt. Noch 44 Seiten: Ich blättere vor und zurück. Michel Houellebecq, „Plattform“, durch die Seiten geschleppt, keuchend, früh kapituliert. Da steht ein Stapel auf dem Tisch, unangenehm herausfordernd; die noch zu lesenden Bücher. Er wächst zum Turm von Babel an. Er steht da und mahnt. Bücher haben neuerdings die seltsame Fähigkeit, im ungelesenen Zustand moralischen Druck auf mich auszuüben. Der Stapel schreit mich an: Lies mich! Ich schreie zurück: Sei still! Ich denke an Elke Heidenreich. Sie hatte mal eine Sendung im ZDF. Die Sendung hieß: LESEN! Lesen. Ausrufezeichen. Ein deutscher Imperativ. Ich denke an Schulbänke, Kreidestaub und Zwang.

Ich sitze in einem Café und öffne die App von Spiegel Online. Es ist ein Reflex wie niesen oder husten: Ich scrolle auf und ab, bestelle Kaffee. Ich öffne die App, ohne zu wissen, warum. Ich wische mich durch Bildergalerien: Eine Klickstrecke über den Zauberer Houdini, Bilder von Flüchtlingen, Bilder von Borussia Dortmund, Donald Trump. Ich schaue auf, wische weiter, breche ab: Ich habe das Lesen verlernt.

Ich habe ein Bild im Kopf: Der Junge mit der Taschenlampe. Er sollte eigentlich schon schlafen. Unter der Bettdecke liest er stattdessen: „Winnetou“, „Harry Potter“, Astrid Lindgren, ein „Lustiges Taschenbuch“. Er liest, als gehe es um Leben und Tod. Er erobert das Reich der Fiktion, sein Finger liegt auf dem Papier, Zeile für Zeile verleibt er sich Sätze ein, Orte, Welten, Menschen, Gerüche, Lichter. Ich verstehe diesen Jungen nicht, er ist so weit weg: Was hält ihn an den Zeilen? Warum schläft er nicht? Ich denke: Geh schlafen, Junge. Mach das Licht aus. Schlafmangel macht dumm.

Ich greife zum Lexikon: da stehen für das Wort „Lesen“ mehrere Bedeutungen. Erstens: Lesen im Sinne von „abnehmen, aufheben, auflesen, aufnehmen, aufsammeln, ernten, pflücken“. Zweitens: Lesen im Sinne von „einen Text mit den Augen und dem Verstand erfassen“.

Der Junge mit der Taschenlampe erntet, als bereite es ihm keine Schwierigkeiten: Schwebend pflückt er Satz für Satz, er liest Buch für Buch auf, und je mehr er liest, desto größer wird sein Antrieb. Ich lese und stocke dabei. Ich fühle mich wie ein alter Mann bei der Apfelernte: Ich hebe die Sätze auf. Jeder Satz ein Schmerz. Ich strecke mich nach den Früchten, mein krummer Rücken tut weh. Ich zähle die Seiten: Wie viele noch? Als sei lesen eine lästige Pflicht.

Als ich pubertierte, gaben mir Bücher ein Versprechen. Das Versprechen auf Trost. Und sie lösten es ein. Ich badete im warmen Kitsch von Herrmann Hesse, zitterte bei Dürrenmatts „Versprechen“, beneidete Homo Faber um seinen Hut und dafür, dass er in New York Frauen küsste und auf einem Dampfer nach Europa fuhr. Ich feierte fantastische Landgewinne. Das spendete Trost. Der Trost war so real, dass auch die Orte und Menschen, die fiktiv waren, real wurden. Realer als die Realität. Heute schlage ich ein Buch auf und sehe nichts als ein Buch: Papier, Seiten, Zeilen, Zeichen. Ich lege es weg – auf den Stapel noch zu lesender Bücher.

Ich saß neulich mit Kopfschmerzen im Zug. Vor mir saß eine Mutter mit zwei Kindern. Sie las aus einem Kinderbuch vor. Sie tat das in einer Lautstärke, dass jeder im Abteil vom kleinen Frosch und seinen Freunden erfuhr. Dann verstellte die Mutter ihre Stimme, sie las jetzt mit Froschstimme. Sie quakte, als gebe es kein Morgen – mit der fröhlichen Selbstgerechtigkeit einer Vorlese-Mama. Ich legte mir einen Satz zurecht: Entschuldigen Sie, können Sie leiser lesen? Entschuldigung, ich versuche zu schlafen. Entschuldigen Sie, Frau Frosch, können Sie aufhören zu quaken? Ich blieb sitzen und sagte nichts.

Ich flüchte mich neuerdings in Amazon Instant Video. Ich schaue die Serie „The Affair“. Ich beneide den Protagonisten um sein markantes Kinn und um seine Wohnung in New York. Er heißt Noah und hat ein paar Probleme, weil er sich im Familienurlaub auf Montauk in eine Kellnerin verliebt. Noah ist verheiratet und hat Kinder. Die Kellnerin ist auch verheiratet, heißt Alison und hat dunkle Ränder um die Augen. Sie ist schön und negativ. Noah und Alison schlafen miteinander in verlorenen Hotelzimmern an verlorenen Orten in einer verlorenen Welt. Noah ist ein Vorbild männlicher Einsamkeit. Alison ist gleichzeitig depressiv und hungrig nach Leben. Ich mag Noah und Alison: Sie sind mir nah. Jede Folge von „The Affair“ spendet Trost.

Das letzte Buch, das mich nicht schlafen ließ, das ich mitnahm in Straßenbahnen und Fernbusse und erst abends aus der Hand legte, wenn meine Augen tränten vor Müdigkeit, war eine Autobiografie. Ein Freund hatte mir das Buch im Frühjahr zum Geburtstag geschenkt, wir standen vor der Uni; noch im Stehen las ich die ersten Sätze: Pep Guardiola, mein Trainer in Barcelona, mit seinen grauen Anzügen und seiner ständigen Grübelmiene, kam zu mir und sah gequält aus. Ich fand ihn in Ordnung damals, nicht gerade ein Mourinho oder Capello, aber er war okay. Dies war, lange bevor wir anfingen, Krieg zu führen.

Das Buch handelt vom wundersamen Leben des größten Fußballers unserer Zeit. Es trägt den angenehm eindeutigen Titel „Ich bin Zlatan Ibrahimović„: Ein Junge, etwas zu groß und etwas laut, armes Elternhaus, bosnischer Abstammung, wächst im schwedischen Malmö auf, zwischen blonden und zurückhaltenden Kindern. Es hätte tausend Arten gegeben, wie sein Leben hätte scheitern können: Er provoziert, macht Sprüche, klaut Fahrräder. Doch Zlatan hat den Ball und einmaliges Talent. Scouts werden aufmerksam, er wechselt für Rekordsummen von Malmö zu Ajax Amsterdam, von Amsterdam zu Turin, von Turin zu Inter Mailand, von Inter Mailand zu Barcelona. Immer begleitet von Mino Raialo, einem dicken, unverschämten Italiener, seinem Berater: einem Genie. Und von einem Selbstbewusstsein, das ihm viele als Arroganz auslegen.

Das Buch funktioniert wie eine gute Serie: Die handelnden Figuren sind so unterhaltsam und faszinierend, dass man möglichst viele Tage mit ihnen verbringen will, sie sind schillernd und groß. Man schließt mit ihnen Freundschaften auf Zeit, begleitet sie auf ihre Abenteuer. Auf der letzten Seite hatte ich das Gefühl, eine Urlaubsbekanntschaft ein letztes Mal in den Arm zu nehmen. „Ich bin Zlatan“ war ein Glücksfall. Eine seltene Freude, die kaum den Stapel der ungelesenen, abgebrochenen, der für irgendwann einmal vorgenommenen Bücher aufwog.

Im vorletzten Sommer habe ich an wenigen Tagen alle Folgen von „Homeland“ geschaut. Carrie Mathison ist die Heldin der Serie: Eine CIA-Agentin mit bipolarer Störung, die unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September 2001 nahezu alles tut, um ihr Heimatland zu beschützen. In der zweiten Staffel steht sie irgendwann auf einem Dach in Beirut. Sie will die Frau eines Hisbollah-Offiziers treffen, eine Informantin. An ihrer Seite ist ihr Kollege Saul, ein amerikanischer Jude mit graumeliertem Bart. Er ist so etwas wie ein väterlicher Freund.

Carries Zustand ist schlecht, Heulkrämpfe überkommen sie. Carrie ist angetrieben von der Angst, dass es einen zweiten 11. September geben könnte – und dass sie ein zweites Mal Hinweise auf einen Anschlag übersieht. Sie rast so verloren durch das Land. Sie steht in den Gängen der CIA-Zentrale in Langley. Sie trägt schwarze Hosenanzüge und trinkt Kaffee aus großen Pappbechern. Sie rast durch ein Land der Weizenfelder. Helikopter kreisen über den Feldern. Von Folge zu Folge hoffte ich mehr, dass sich Carrie bei ihrem Wettlauf gegen die Zeit nichts und niemand in den Weg stellt, weder ein Vorgesetzter noch das Gesetz.

Sie ist Agentin der CIA, des mächtigsten Geheimnisdienstes der Welt. Sie hat alle technischen Möglichkeiten. Aber sie ist schwach und verletzlich wie ein Kind, getrieben von Verlustängsten, zersetzt von Haltlosigkeit und auch: auf der Suche nach Liebe, Nähe, nach Schutz. Sie ertränkt sich in Alkohol und Tabletten.

Ich sehe den Bücherturm, er schreit mich an, ich frage ihn: Warum unterhältst du mich nicht, wie mich Carrie unterhält? Lohnt sich lesen überhaupt? Wäre eine Welt denkbar, in der man nicht lesen muss?

Dann denke ich an: Mietverträge, Reisewarnungen, Sicherheitshinweise, Gebrauchsanweisungen, Straßenschilder, Strafzettel und Zeitungsmeldungen. Wir müssen offenbar lesen, um uns in dieser Welt zu orientieren. Auf der einen Seite.

Auf der anderen Seite: Für den Notfall, wenn es ums Überleben geht, haben wir längst Lösungen gefunden, die ohne Lesen auskommen. Wenn in einem öffentlichen Gebäude ein Brand ausbricht, dann suchen wir nach einem leuchtenden Schild. Es ist grün und zeigt ein fliehendes Strichmännchen. Wenn wir in der Werkstatt eine Flasche finden, auf der ein Totenkopf prangt, sind wir gewarnt. Und im Flugzeug ist es ein Comic, der uns die Sauerstoffmaske erklärt. Symbole sind nutzerfreundlich. Sie vermeiden Umständlichkeiten, mit denen uns täglich Mietverträge, Verordnungen, Beipackzettel und Romane quälen. Das Symbol hat nur ein Ziel: Es will verstanden werden.

Texte haben unendlich viele Möglichkeiten, dieser Verantwortung zu entgehen. Warum erklärt uns ein Handyanbieter unseren Vertrag nicht audiovisuell? Er wäre gezwungen, jeden Winkelzug, jede Hintertür, jede Fußnote zu verbildlichen. Texte kennen Relativsätze, Nominalkonstruktionen, Fremdwörter. Sie begegnen uns mit der Selbstgerechtigkeit des geschriebenen Wortes: Wenn du mich nicht verstehst, ist es deine Schuld. Ich schaue den Bücherturm an und sage: Sprich klar und deutlich! Hör auf zu schwurbeln.Denke daran, dass du verstanden werden willst. Sonst bist du verzichtbar. Und weil ich unsicher bin, ob mich der Bücherturm versteht, erzähle ich ihm eine Geschichte.

Im Jahr 1963 erhielt der Werbegrafiker Harvey Ball von einer amerikanischen Versicherungsgesellschaft den Auftrag, einen Ansteckbutton zu entwerfen. Der Button sollte die Mitarbeiter des Konzern motivieren und positiv stimmen. Harvey Ball zeichnete einen Kreis, malte ihn gelb aus und setzte in die Mitte des Kreises zwei Augen und einen lachenden Mund. Ball hatte in diesem Moment das Smiley erfunden. Gut 50 Jahre später prägt das lachende Gesicht die Ikonografie des Internets. Aus dem Smiley hat sich inzwischen eine eigene Sprache entwickelt: die Sprache der Emoticons. Eine Sprache ohne Wörter, international verständlich, in Sekunden erlernbar. Siehst du, Bücherturm, es geht auch ohne Worte. Der Bücherturm bleibt stumm. Kein Wort zu Harvey Bell. Kein Wort zu „Homeland“ und „The Affair“. Buch, du bist ersetzbar.

In gewisser Hinsicht ähnelt die Serie dem Buch. Das On-Demand-Prinzip lässt uns entscheiden, wann und wo wir welche Folge gucken. Wenn Netflix eine neue Staffel von „House of Cards“ online stellt, dann schließen wir uns ein und schauen, gefesselt und süchtig und ohne Pause, wie wir früher Karl May gelesen haben oder „Harry Potter“. Es gibt für dieses Verhalten einen vielsagenden Begriff: Binge Watching. „Binge“ steht für „Gelage, Besäufnis, Exzess“. Binge Watching klingt nach Binge Eating, einer Essstörung mit periodischen Heißhungeranfällen. Die Faszination der Serie wird pathologisiert. Während die Faszination des Lesens noch immer romantisiert wird: der Bücherwurm, die Leseratte, der Junge mit der Taschenlampe, der die Abenteuer des Tom Sawyer liest.

Anfang des Jahres präsentierten Wissenschaftler der Universität Austin in Texas die Ergebnisse einer Studie, die einen Zusammenhang zwischen Depressionen und Binge Watching herstellt. Depressive Menschen tendieren laut Studie eher zum suchthaften Serienkonsum als Nichtdepressive. Einige amerikanische Medien griffen die Studie auf. Dabei liegt die Antwort, warum Menschen Verabredungen absagen, warum sie die Rollläden herunterlassen, warum sie vergessen zu frühstücken, während sie eine neue Staffel ihrer Lieblingsserie schauen, so nahe: Weil sie gut unterhalten werden. Die Serie hat das Buch längst eingeholt. Das „Literarische Quartett“ , das seit einer Woche im ZDF Auferstehung feiert, wird die neue Konkurrenz nicht ignorieren können.

Seit der Erstausstrahlung im Jahr 1988 war „das Quartett“ für den deutschen Bildungsbürger ein trojanisches Pferd im feindlichen Land, so etwas wie die letzte Hoffnung im Kampf gegen die Dummheit. Der Bildungsbürger verstand das „Quartett“ als kraftvolle Antwort auf die Einführung des Privatfernsehens vier Jahre zuvor. In seinen Augen standen sich kampfbereit gegenüber: die Profanität des Bildschirms und die Heiligkeit des Buchs. Kultur gegen Unkultur. Auf Seiten des Buchs: das Johannes-Evangelium. „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott.“ Auf Seiten des Bildschirms: Dieter Bohlen. So kann der Bildungsbürger seit einer Woche wieder angeregt und voller Anteilnahme zusehen, wenn Bücher gestreichelt, verstoßen, zerrissen und gepriesen werden. Mit einer Frage wird ihn das „Quartett“ eher nicht konfrontieren: Lohnt es sich noch, zu lesen?

Man stellt diese Frage weder in Schulen noch im Fernsehen noch in der Politik. Und wenn sie jemand stellt, dann als rhetorische Frage mit eingebauter Antwort. Klar lohnt es sich!, sagen die Kinder am Vorlesetag. Klar lohnt es sich!, sagen die Lese-Botschafter von RTL. Klar lohnt es sich!, sagt der Deutschlehrer, mit gelben Reclam-Bänden unter dem Arm und denkt dabei: Das Buch gehört doch zum guten Menschen dazu.

Aber auch Beate Zschäpe liest gern. Das sagte letztes Jahr eine Zeugin im NSU-Prozess aus, ihre frühere Nachbarin. Beate Zschäpe teilt diese Leidenschaft mit Frauke Ludowig, Marietta Slomka und Florian David Fitz. Ludowig, Moderatorin bei RTL, sagt, sie könne sich einen Alltag ohne Lesen nicht vorstellen. Slomka, Moderatorin beim ZDF, findet es „traurig und überaus bedenklich“, dass heutzutage so vielen Kindern nicht mehr vorgelesen werde. Und Fitz, Schauspieler, fragt sich, was er ohne Shakespeare wäre; ohne die „Korrekturen“, ohne „Krieg und Frieden“, ohne die „Buddenbrooks“. Er glaubt: „nicht viel.“

Man kann das bezweifeln. Wahrscheinlich wäre er immer noch Florian David Fitz. Er übertreibt, wie so viele übertreiben, wenn sie vom Lesen reden. Ludowig, Slomka und Fitz sind Botschafter der „Stiftung Lesen“. Wenn sie vom Lesen sprechen, dann werden sie eher nicht an Beate Zschäpe denken. Sondern an Leseratten, an Bücherwürmer, an durchwachte Nächte, an verstaubte Seiten: an diesen ganzen Lesekitsch.

Sie werden davon ausgehen, dass Lesen gut und wichtig ist. Vielleicht denken sie an ein Zitat, das aus einem Werk Heinrich Heines stammt: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“ Da hört man, im Umkehrschluss: Wer für Bücher ist, ist für die Menschlichkeit. Aber: Auch Beate Zschäpe hat gelesen. Es hat sie nicht davon abgehalten, unmenschliche Dinge zu tun. Und Heines Satz hatte zwar in unheimlicher Weise prognostische Richtigkeit – die Nationalsozialisten haben erst Bücher verbrannt und später Menschen –, er sollte aber nicht zu einem Fehlschluss verleiten: dass es bei den Bücherverbrennungen um das Medium an sich ging. Warum auch? Das Buch war ja ebenso das Medium von Ernst Jünger, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger und Adolf Hitler.

Der Stapel sagt: Du gibst zu schnell auf. Du sollst durchhalten. Ich sage: Und du sollst unterhalten. Sei wie Muhammad Ali. Schwebe über den Boden, tanze, sei großspurig und laut. Der Stapel sagt: Die Literatur ist kein Boxer. Sie ist eine leise Welt, eine Welt mit Geheimnissen. Ich frage: Und was ist, wenn man vor lauter Geheimnissen die Geschichten nicht mehr sieht? Ich berühre die Seiten: Sie sind voller Staub. Ihr seid nicht gut, ihr seid nicht schlecht, ihr seid einfach nur Papier.

Auf meinem Macbook läuft eine Folge von „The Affair“: Noah und Alison fahren auf einer Fähre nach Block Island, eine abgelegene Insel vor Montauk. Noah kauft zwei Becher Kaffee, Alison steht an der Reling und schaut aufs Meer. Noah fragt Alison: Hältst du dich für einen guten Menschen? Und Alison sagt: Nein. Ich staube die Bücher ab, Buch für Buch, und stapele sie in eine Kiste. Ich habe das Lesen verlernt. Aber ich habe Carrie, Saul, Noah und Alison. Ich stelle die Kiste in den Keller. Es fühlt sich gut an.

Rente mit 56

Die wirklich großen Karrieren beginnen mit einem Purzelbaum und enden mit der Rente mit 56.

An meiner Schule, einem schwäbischen Gymnasium nahe Stuttgart, erzählte man sich die Geschichte eines ehemaligen Schülers, der bei der Abiturprüfung in Sport nichts weiter als einen Purzelbaum gemacht haben soll. Der ehemalige Schüler heißt Harald Schmidt. Ich weiß nicht, ob die Geschichte stimmt. Aber sie macht Hoffnung: Ein eleganter und gut inszenierter Purzelbaum kann so viel folgenreicher sein als jahrelanges Engagement in Lerngruppen.

Auf Abitur und Purzelbaum folgten eine Bewerbung an einer Journalistenschule, erfolglos, eine erfolgreiche Ausbildung zum Schauspieler, Engagements am Theater und im richtigen Moment die Weggabelung zum Kabarett, ans Düsseldorfer Kommödchen. Da war Harald Schmidt, wie er sich erinnert, kurz davor zum „Kantinenschauspieler“ zu werden, der abseits der Bühne motzt und lästert und den Intendant nachäfft. Das war seine Rettung.

Ein bisschen wie bei Christoph Waltz, den Quentin Tarantino im letztmöglichen Moment aus dem Tal deutscher Fernsehproduktion ausflog. Auf dem Weg ins Fernsehen sei Talent nicht das entscheidende gewesen, denn Talent haben viele, sondern Hartnäckigkeit, sagt Harald Schmidt. Das beharrliche Einrennen von Türen.

Dann saß er jahrelang auf seinem Bürostuhl hinter einem Schreibtisch, schlagfertiger als alle anderen im Land, in einem Fernsehstudio in Köln, Krawatte, Anzug, Brille, und erlebte die Höhen und Tiefen seiner Late Night Show gleichbleibend gut gelaunt. Er wechselte die Sender, die Sender wechselten die Chefs, die Quote fiel und stieg, das Feuilleton fand Gefallen, das Feuilleton wendete sich ab, der Bezahlsender Sky kaufte ihn. Zuletzt war die Quote kaum messbar.

Man verschenkte die Eintrittskarten zu seiner Show, um das Studio vollzubekommen, was für Harald Schmidt ein gutes Warm-up-Thema war: Na, wo haben Sie ihre Karte her? Auch geschenkt bekommen? Auf die Frage, warum er nicht aufhörte, als es am schönsten war, antwortete er immer das gleiche: Was nutzt es denn, wenn man im Café sitzt und sagen kann „Hey, ich bin übrigens der, der aufgehört hat, als es am schönsten war“? Und auf die Frage, was er jetzt vorhabe, antwortete er unterschiedlich und, so wirkte es jedenfalls, nicht sehr gerne: Er wolle jetzt in Paris an der Metro sitzen und französische Frauen angucken. Das war eine seiner Antworten.

Eins ist ziemlich sicher: Harald Schmidt beendet in dieser Woche seine Fernsehkarriere. Rente mit 56, ein sozialdemokratischer Traum. Auf Twitter geisterte vor einigen Wochen kurzzeitig das Gerücht umher, dass er jetzt beim österreichischen Servus TV anfängt, was irgendwie eine gute Pointe wäre, nachdem Harald Schmidt versichert hatte, dass es vorbei sei im deutschen Fernsehen. Aber das blieb ein Gerücht. Leider.

Die Wahrheit ist: Es gab keine Höhen und Tiefen der Harald Schmidt Show. Es gab unterschiedliche Reaktionen des Publikums. Es gab diejenigen, die nur Schmidt guckten, als alle Schmidt guckten. Das ist wie beim Fußball: Da gibt es auch die unerträglichen Kröten, die sich nur für Europa- und Weltmeisterschaften interessieren, aber die Bundesliga ist ihnen vollkommen egal. Aber der Zauber findet statt, wenn Braunschweig auf Frankfurt trifft oder der FC Köln auf Union Berlin.

Harald Schmidt lieferte jahrelang die Kunstfigur Harald Schmidt, frei von Qualitätsschwankungen: einen bösen Mann, dem die Pointe über alles geht, über Anstand, Moral und politische Orientierung. Hinter der Kunstfigur jedoch sah das anders aus. Da kritisierte Harald Schmidt Johannes B. Kerner für eine Live-Sendung aus Erfurt, als dort kurz vorher ein Amoklauf stattgefunden hatte. Da wies er vor laufender Kamera Oliver Pocher zurecht, weil er einen Gast schlecht behandelte. In Wahrheit ist Harald Schmidt nicht so böse, wie er tat. Auch dafür muss man ihn vermissen.

Witz und Vorurteil

Warum war Jesus ein Student? Weil er lange Haare hatte und immer, wenn er etwas tat, dann war das ein Wunder.

Wie funktioniert so ein Studentenwitz?

Zum einen – wie jeder Witz – durch unerwartete Wendungen in der Pointe, durch Überraschungen. Zum anderen aber durch gemeinsame Vorurteile. Über Ostfriesenwitze lacht man nur, wenn man die Vorurteile über Ostfriesen kennt (nicht sehr schlau). Beamtenwitze sind nur lustig, wenn man der Meinung ist, Beamten seien faul. Ein Witz ist oft ein humorvoll zugespitztes Ressentiment.

Das Vorurteil, das zum Verständnis der Jesus-Pointe grundlegend ist, heißt: Studenten sind lichtscheu, antriebslos, verwahrlost, ungepflegt, manchmal gar eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung. Der Studentenwitz ist die friedliche Variante der Mehrheitsgesellschaft, mit ihrer Wut auf Andersartigkeit umzugehen.

Der Studentenwitz erlaubt einen Blick in die deutsche Geschichte

Dabei schreitet die Produktion neuer Witze langsamer voran als die Veränderung der Gesellschaft. Der Student, über dem im Fall des Jesuswitzes gelacht wird, ist der Student der sechziger, siebziger und vielleicht noch der achtziger Jahre. Es ist nicht der optimierte Bachelorstudent von heute. Wir können mit diesem Witz in die Vergangenheit der Bundesrepublik schauen. In eine Zeit, in der es lebensgefährlich sein konnte, Student zu sein.

Das Ressentiment, das sich heute in Studentenwitzen zuspitzt, bereitete damals das Klima, in dem es zum Attentat auf Rudi Dutschke und zum Tod von Benno Ohnesorg kommen konnte. Der Graben zwischen dem Land und seinen Studenten war bedrohlich tief. Auf der einen Seite der Volkszorn und die Boulevardpresse, die Jagd auf Studenten machte. Auf der anderen SeiteUniversitäten, an denen man über den Umsturz diskutierte.

Dieser Graben markierte jedoch nicht allein politische und weltanschauliche Differenzen, er entstand auch durch Missgunst und Neid gegenüber studentischer Lebensführung. Die sogenannte hart arbeitende Bevölkerung beobachtete mit großer Skepsis jenen Teil des Landes, der sich über Jahre und Jahrzehnte im Halbdunkel von Wohngemeinschaften und Bibliotheken herumtrieb, ohne im verbreiteten Sinne produktiv zu sein.

Ohnesorg, Dutschke, Wasserwerfer, Mao-Kongress

Dieser Graben ist verschwunden, während es ihn noch gibt. Verschwunden ist er, weil sich Studieren heute, in Zeiten von Creditpoints und Anwesenheitspflicht, dem Zwangscharakter der Arbeitswelt annähert. Deshalb ist es auch sehr gestrig, wenn der Fernsehmoderator Markus Lanz seine Zuschauer begrüßt mit: „Guten Abend, meine Damen und Herren, guten Morgen, liebe Studenten.“ Oder wenn man auf die Frage, warum Studenten um sieben aufstehen, antwortet: Weil der Supermarkt um acht zumacht. Das ist die alte Bundesrepublik: Ohnesorg, Dutschke, Wasserwerfer, Mao-Kongress. Das hat wenig zu tun mit der Universität von heute, mit Karrieremessen und Lebenslaufseminaren.

In den Köpfen gibt es diesen Graben aber noch. Der Hass auf Studenten ist abrufbar. Studieren als Selbstzweck, ohne direkte Orientierung in die kapitalisierte Arbeitswelt, ist auch heute ein Wert, der nicht mehrheitsfähig ist. Die Studenten stehen unter dem ständigen Rechtfertigungsdruck gegenüber jenen, die arbeiten.

Mit den Reformen von Bologna, die eine Ökonomisierung des Studiums vorantrieben und die Universität in die Zwänge der sogenannten hart arbeitenden Bevölkerung eingliederten, hat der Studentenhass, der Ohnesorg und Dutschke ins Grab brachte, einen späten Sieg davon getragen.

Zum Abschluss ein Witz. Ich find‘ ihn ganz gut.

„Liebe Eltern,“ schreibt der Student, „ich habe schon lange nichts mehr von Euch gehört. Schickt mir doch einen Scheck über 500 Euro, damit ich weiß, dass es Euch gut geht.“

Wer nicht spurt, wird vorgeführt

Ich habe mir einen neuen Fernseher gekauft und ein bisschen Fernsehen geschaut. Und jetzt habe ich ein paar Fragen.

Isst du gerne Ziegenhoden oder lebendige Würmer mit Sahne? Stöckelst du gerne, als eine von 22 jungen Frauen, vor einem Glatzkopf auf und ab – in der verzweifelten Hoffnung, dass er dich zu einem Date einlädt? Singst du gerne für einen alternden Schlagerstar, der dich als Schlampe bezeichnet? Tanzt du gerne für ein alterndes Model, das dich zu dick findet?

Nein?

Dann solltest du nicht ins Dschungelcamp (RTL) gehen, nicht zum „Bachelor“ (RTL), nicht zu „Deutschland sucht den Superstar“ (RTL) und auch nicht zu „Germany’s Next Topmodel“ (Pro7). Du musst da nicht hin – niemand zwingt dich.

Aber was denkst du, wenn dir Menschen gegenübersitzen, vor denen du lückenlos dein Leben rechtfertigen musst, jede Auszeit, jede Abbiegung, jeden Irrtum? Wie fühlt es sich an, wenn du lachend und zwanghaft freundlich darum betteln musst, dass du in Zukunft die meiste Zeit deines Tages in einem Büro verbringen darfst oder in dunklen Lagerhallen oder an der Kasse eines Supermarkts – bis du abends müde ins Bett fällst? Bereitet dir das Sorgen?

Ja? Dann wirst du, mit hoher Wahrscheinlichkeit, Schwierigkeiten bekommen.

Seit es Castingshows gibt, gibt es auch die Kritik daran: Viele Menschen finden sie erniedrigend und bösartig, teilweise gar menschenverachtend. Viele sehen Castingshows als Phänomen des Prekariats, der Armen und Abgehängten – zum einen. Zum anderen werden sie quer durchs Land geschaut und, teilweise heimlich, genossen. Zeitungen und Nachrichtenportale rezensieren das Dschungelcamp wie Theateraufführung – als gehe es um Fiktion, um ein Spiel.

Castingshows als Parabel auf unsere Arbeitswelt

Dabei bilden diese Sendungen Wirklichkeiten ab, und erklären, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Castingshows sind eine Parabel auf unsere Arbeitswelt – auch auf die Welt der Schulen, Ausbildungsstätten, Universitäten. Sie propagieren, dass wir hoffnungslos unvollkommen sind, aber uns eine letzte Chance bleibt: Wir müssen uns anstrengen, über Grenzen gehen, den Schmerz überwinden und manchmal auch an der richtigen Stelle die Klappe halten.

Wer nicht bereit ist, diese Chance zu nutzen, wird bestraft und vorgeführt.

So ist das beim Dschungelcamp. Beispielhaft diese Szene: Ein Kandidat bricht seine Teilnahme ab, als man ihm Stromschläge verpasst und mit Insekten und Dreck überschüttet. Das versetzt eine andere Kandidatin in Rage.

Sie schreit: „Ich habe das acht Tage gemacht. Ich habe Schmerzen. Aber auf eine Idee bin ich noch nie gekommen: aufzuhören, bevor es vorbei ist!“ Die Kandidatin ist einen Schritt weiter: Sie hat die Propaganda der zu überwindenden Unvollkommenheit internalisiert. Sie funktioniert ganz ohne Sklaventreiber.

So ist das bei „Germany’s Next Topmodel“. Hier investiert Heidi Klum ihren seltsam gestählten Ehrgeiz in das Projekt, jungen Frauen einzureden, dass sie zu dick sind, seltsam laufen, zu widerspenstig sind. Sie macht das in einer Strenge, die jeden Fallmanager in jedem Arbeitsamt dieses Landes in den Schatten stellt.

Das Prinzip: Verknappung und Wettlauf

So ist das auch beim „Bachelor“. 22 junge Frauen sitzen in einer Villa in Südafrika und betrinken sich. Ein Mann in Anzug beobachtet sie dabei und wählt, nach und nach, einzelne Frauen aus, mit denen er im Pool planschen will, eine Safari macht oder eine Tour im Hubschrauber. Die jeweils zurückgeblieben Frauen zerbrechen sich dann den Kopf: Warum bin ich nicht dabei? Was mache ich nur falsch? Sie klingen dann, als habe man ihnen nach der vierhundertsten Bewerbung wieder eine Absage geschickt.

Man kann diese Castingshows natürlich ignorieren und gar nicht ein- oder wegschalten. Dann bleibt aber immer noch die große Show im echten Leben, und der entkommt man schwerer. Die Spannung dieser Show besteht darin, dass es weniger gute Arbeit gibt als Arbeitssuchende. Das Prinzip dieser Show heißt Verknappung und Wettlauf.

Wir werden schon in der Schule, und später an der Universität, mit dem Nervenkitzel der Arbeitslosigkeit konfrontiert: Wer nicht arbeitet, fliegt raus aus der Gesellschaft. Nicht nur, weil man ohne Arbeit kaum Geld hat. Sondern vor allem, weil man ohne Arbeit nicht anerkannt wird.

Und wenn man es nicht schafft, seine Unvollkommenheit zu überwinden, dann glotzt einen der Kapitalismus an; hämisch wie Sonja Zietlow, lächelnd wie der Bachelor, verächtlich wie Dieter Bohlen, streng wie Heidi Klum.

Die verbogene Partei

Es gibt zwei Arten, Politik zu beobachten. Die eine ähnelt dem, was ein Sportreporter macht: Am Spielfeldrand sitzend, betrachtet er das Geschehen aus sicherer Halbdistanz und identifiziert Sieger und Verlierer. In Deutschland ist das sehr verbreitet, im Journalismus sowieso.

Die andere Art der Beobachtung verfolgt nicht Personen, sondern Ideen. Bei dieser Sicht ist der Sieg nicht dann erreicht, wenn eine Person etwas geschafft hat, sondern wenn sich eine Idee durchsetzt.

Was bei der ersten Betrachtungsweise nach einem Sieg aussieht, kann in Wahrheit eine Niederlage sein. Die Niederlage einer Idee.

Für jene, für die Politik vor allem ein Wettkampf von Personen ist, gibt es im Moment einen klaren Gewinner auf dem Berliner Parkett: Er heißt Sigmar Gabriel und ist Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

Wenn sich die SPD an diesem Wochenende zu ihrem außerordentlichen Bundesparteitag trifft, dann kann Gabriel mit dem Selbstbewusstsein eines Mannes anreisen, dem es gelungen ist, einen Abstiegskandidaten, denn das ist die Partei, als Sieger zu präsentieren: gewonnenes Mitgliedervotum, erfolgreiche Koalitionsverhandlungen, Regierungsbeteiligung. Wäre die SPD ein Verein zur Befriedigung ihres Vorsitzenden, dann hätte dieser Verein seinen Zweck in den letzten Wochen erfüllt.

Doch: Der Triumph des Vorsitzenden ist eine Niederlage der Partei. Die SPD ist noch immer in der Krise, in die Gerhard Schröder sie mit seiner Agenda-Politik gestürzt hat. Sie ist noch immer eine verbogene Partei. Und die Beteiligung an der Großen Koalition wird daran nichts ändern. Im Gegenteil.

Wer das Schicksal der Partei nicht mit dem Blick eines Sportreporters betrachtet, also nicht als Abfolge von Siegen und Niederlagen einzelner Personen, sondern den großen Linien folgt, den Ideen, der erkennt schnell, dass die SPD in der Vergangenheit lebt: Die Identitätsfragen werden auf Gestern verschoben.

Das hat das vergangene Jahr gezeigt. Erst wurde der 150. Geburtstag der Partei gefeiert, dann der 100. Geburtstag Willy Brandts. Brandt musste für alles herhalten, sogar für die Richtigkeit einer Koalition mit Angela Merkel. Er wurde zum Konfuzius der Partei. Zum Glückskeks-Willy. 2013 machte die SPD einen kollektiven Ausflug ins Museum. Volle Fahrt zurück.

Man kann das als Beweis für die Strahlkraft Willy Brandts werten. Oder dafür, dass sich die Partei unwohl in der Gegenwart fühlt und Angst vor der Zukunft hat.

Noch immer hat die Partei keine Idee entwickelt, wie sie jene Millionen von Wählern zurückzuholen will, die seit 1998 hauptsächlich nach links oder ins Lager der Nichtwähler abgewandert sind. Diese Wähler werden sich kaum von guten Kompromissen mit Angela Merkel überzeugen lassen oder von hart erkämpften Teilerfolgen in der Großen Koalition. Sie werden nicht zurückgeholt von ein bisschen mehr Gerechtigkeit in der Rente, nicht von einem verspäteten Mindestlohn mit Ausnahmen, nicht von ein wenig mehr Regulierung der Banken, nicht von einer kleinen Energiewende, nicht von einer leicht verbesserten Europapolitik und auch nicht von ein bisschen Protest gegen die Überwachungsmethoden amerikanischer Geheimdienste. Sie werden nur zurückgeholt von einer selbstbewussten linken Partei mit Profil, die ihre Ideen nicht verrät.

Dieses Profil fehlt der SPD nach wie vor und es wird sich in der Großen Koalition kaum schärfen lassen. Da sitzen die SPDler an einem Tisch mit einer Partei, der CSU, die mit ausländerfeindlichen Parolen Stimmung gegen Einwanderer macht, und einer anderen Partei, der CDU, die langsam und beharrlich einen gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohn aushöhlen will, bis er kein gesetzlicher und flächendeckender Mindestlohn mehr ist. Mag die CDU unter Angela Merkel noch so profillos sein, noch so ausgeblutet und charakterlos, sie hat doch genügend Kraft, um alles, was nach einem Erfolg der SPD aussehen könnte, kleinzureden. Profillosigkeit kann auch ansteckend sein: Die CDU unter Angela Merkel verbreitet diesen Virus – die SPD ist schon infiziert.

Die Frage ist, wie die SPD Profil gewinnen kann in einer Zeit, in der Politik so spektakulär langweilig geworden ist, so technisch und grau. Nur eingefleischte Fans werden Spaß daran haben, Merkel und Gabriel interessiert dabei zu beobachten, wie sie über den kleinen Parcours von Rente, Pflege und Mindestlohn traben. Dabei weitgehend unbehelligt von einer Opposition. Abseits der großen Fronten. Fernab von echtem Streit.

Sicher: Politik ist Klein-Klein, Politik heißt Kompromiss und Politik heißt auch manchmal Langeweile. Ball vor, Ball zurück. Das alles ist notwendig, um Größeres anzustreben. Das Problem ist nur: Im Moment ist das Große nicht sichtbar. Sigmar Gabriel nennt diese Regierung eine „Koalition der kleinen Leute“. In Wahrheit jedoch regiert die SPD in einer Koalition des kleinen Denkens.

Es ist fast untergegangen, dass es der SPD nicht gelungen ist, eines der wichtigsten Anliegen des Wahlkampfs, und damit ein Versprechen an ihre Wähler, in den Koalitionsvertrag zu schreiben: eine gerechtere Steuerpolitik. Ebenso ist untergegangen, dass die Parteiführung in nächtlichen Verhandlungsrunden ohne Not ein sehr sozialdemokratisches Ziel aufgegeben hat: mehr Geld für die Entwicklungspolitik. Auch das hatte man im Wahlprogramm versprochen. Der entwicklungspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion hat deswegen aus Protest sein Amt niedergelegt. Das sind nur zwei Beispiele, wie Erfolge von Personen manchmal Niederlagen von Ideen bedeuten.

Es wird in den kommenden vier Jahren ein Duell geben müssen: die große Idee der sozialen Demokratie gegen das Kleingedruckte im Koalitionsvertrag. Manchmal wird das auch bedeuten: Parteibasis gegen Parteiführung. Die Schröder-Jahre haben gezeigt, wie mit dem Argument von Regierungsverbindlichkeiten eine Basis überrannt werden kann. Das darf sich nicht wiederholen.

Die Partei wird sich das Recht erkämpfen müssen, trotz Regierungsverantwortung die großen Fragen zu diskutieren: Wo steht die SPD? Ist sie eine Partei, die nur die groben Reparaturarbeiten übernimmt in einer vom Kapitalismus angefressenen Demokratie? Oder eine Partei, die eine anderes Gesellschaftsmodell entwirft und mehrheitsfähig macht?

Das wäre ein Schritt in die Gegenwart. Wenn der gemacht ist, warten die Fragen der Zukunft.

Stoppt die Bürohaltung!

Stoppt Bürohaltung

Man muss es doch mal sagen: Studieren ist großartig. Man sollte so lange studieren, wie es nur irgendwie geht. Unter Zuhilfenahme aller möglichen Tricks.

Denn was nach dem Studium wartet, ist furchterregend: Arbeit. Im schlimmsten Fall sogar: Arbeit in einem Büro. Tagelang herumsitzen auf engstem Raum, mit gelegentlicher Fütterung. Bei Hühnern nennt man das Käfighaltung. Und Käfighaltung ist zu Recht verpönt.

Dieser Text hat nur ein Ziel: Er soll dazu beitragen, dass wir in Deutschland die Haltung von Menschen in Büros gesellschaftlich ächten. Um dieses Ziel zu erreichen, werde ich mich mit Femen verbünden. Die jungen Aktivistinnen sollen barbusig auf die Schreibtische von Krankenkassensachbearbeitern springen und schreien: STOP OFFICE WORK! STOP OFFICE WORK! Sie werden Betriebskantinen stürmen und ins Salatbuffet hüpfen.

Wir brauchen endlich eine Debatte über Bürohaltung

Femen hat kürzlich aus Protest einen Gottesdienst im Kölner Dom gestört. Was aber ist der Katholizismus von Kardinal Meisner gegen die brutale Ideologie der Bürohaltung? Wir brauchen in dieser Gesellschaft endlich eine Debatte über Bürohaltung.

Bürohaltung ist gefährlich, unterdrückerisch und totalitär.

Da ist zum Beispiel Herr Häberle. Herr Häberle wird seit Jahrzehnten in einem Großraumbüro im Stuttgarter Umland festgehalten. Er muss Anträge prüfen und stempeln. Grüner Stempel heißt: angenommen. Roter Stempel heißt: abgelehnt. Herr Häberle hat eine Kaffeetasse, die mit seinem Namen markiert ist. Im Inneren der Tasse steht ein Spruch: Du bist meine Morgensonne.

Herr Häberle sitzt auf einem Bandscheiben-Drehstuhl, den hat er sich vor drei Jahren vom Hausmeister gewünscht. Alle drei Jahre gibt es einen neuen. Dann geht der Hausmeister mit einem Klemmbrett durch die Abteilungen und sagt nur drei Worte: „Leute, Großbestellung, Bürobedarf.“ Drehstühle bestellen – das ist das letzte große Abenteuer im Leben des Herrn Häberle. Ein bisschen Freiheit.

Früher gab es in der Kantine noch Auswahl. Es gab Gericht 1 und Gericht 2. Jetzt gibt es nur noch Gericht 1. Und zum Nachtisch entweder Grießbrei oder einen Apfel. Bald werden sie uns auch noch den Grießbrei nehmen, denkt Herr Häberle.

Oder da ist Sabrina aus Berlin. Sabrina arbeitet in einem Unternehmen, das sich als „jung“ bezeichnet. „Jung“ bedeutet in diesem Zusammenhang: befristete Verträge, falsche Freundlichkeit, dafür aber ein Tischkicker auf jeder Etage und Latte Macchiato bis zum Abwinken. In Sabrinas Unternehmen werden ab 11.15 Uhr Arbeitsgruppen für den Gang in die Kantine gebildet. Man nennt die Kantine hier „Lounge“.

Lachen über Hierarchien hinweg

Sabrina ruft ihre Kollegen an. Sabrina fragt: „Hey, ich gehe um eins mit den anderen runter in die Lounge was lunchen, magst du auch?“ In Sabrinas Unternehmen wird viel gelacht. Auch gerne mal über Hierarchien hinweg. Das ist ja das Perfide.

Herr Häberle zum Beispiel weiß, dass seine Arbeit scheiße ist. Sein Vorgesetzter ist ein humorloser Idiot, der Abteilungsleiter dick und faul. Herr Häberle motzt, so viel er kann, und ist immer schlecht gelaunt. Aber Sabrina muss immer lachen: Beim Ski-Ausflug mit den Kollegen, bei der Weihnachtsfeier. „Spaß bei der Arbeit ist mir ganz arg wichtig“, sagt Sabrina.

Die fiktiven Beispiele Herr Häberle und Sabrina sind keine Einzelfälle. Wie ihnen geht es Hunderttausenden in diesem Land. Bürohaltung ist ein Phänomen, das uns alle angeht. Bürohaltung kommt überall vor, beinahe unabhängig von Alter und Schichtzugehörigkeit. Bei Versicherungen, in Autohäusern, auf Ämtern, in Werbeagenturen, in Groß- und Kleinverlagen. Wenn ein Angehöriger von Ihnen täglich acht Stunden in einem Büro verschwindet, dann schauen Sie nicht weg! Fragen Sie nach!

Ich starte jetzt die Kampagne BÜRO 2014. Mein Ziel ist es, bis zum Ende des Jahres die Fälle von Bürohaltung in Deutschland zu halbieren. Es gibt bereits ein Logo. Wer mich unterstützen will, der kann sich unter buero@uniloser.de melden.

Gerade Studenten sollten sich hier engagieren. Sie haben Zeit und sind akut von Bürohaltung bedroht. Ich finde es erschreckend, dass so ein reiches und zivilisiertes Land wie Deutschland Bürohaltung nötig hat. Packen wir es an.

Meine 5 liebsten Angstmacher

Ich glaube, ich hatte manchmal Schwierigkeiten an der Uni, weil ich zu wenig gemacht und zu viel gegrübelt habe. Manchmal denke ich aber, dass Grübeln das Schönste am Studieren ist.

Ich habe die letzten Tage über einen seltsamen Widerspruch nachgedacht, über die Gleichzeitigkeit zweier Entwicklungen, die nicht zusammenpassen – auf den ersten Blick. Das Ergebnis meiner Überlegungen ist: Der Kapitalismus funktioniert wie eine Terrorbande. Er muss nur gelegentlich drohen, um dauerhaft Angst zu verbreiten. Weil wir die Angst verinnerlichen, weil sie sich in uns verselbständigt.

Ich will erklären, wie ich darauf komme. Beginnen wir auf dem Campus: Seit meinem ersten Studientag, das war im Frühjahr 2007, begegne ich verunsicherten, ängstlichen Menschen. Studenten, die auf ihre Zukunft blicken, als steuerten sie auf ein Gewitter zu, auf das es sich vorzubereiten gilt: dieses dauerhaft apokalyptische Reden. Als sei jedes Abbiegen auf dem Lebensweg nur eine Sicherheitsvorkehrung im Angesicht der nahenden Katastrophe. Wir präparieren unsere Lebensläufe, jeder für sich, wie man sein Haus vernagelt, bevor der große Sturm kommt.

Warum sind wir nicht entspannter?

Die größte, die existentielle Frage an deutschen Universitäten lautet: Müssen wir das für die nächste Klausur wissen? Man kann diese Angst kaum jemandem vorwerfen. Jedenfalls nicht jenen, die sie haben.

Diese Angst – das ist die eine Sache. Die andere Entwicklung sollte uns eigentlich beruhigen. Wer studiert hat, wird sehr selten arbeitslos und verdient verhältnismäßig gut. In diesem Jahr studieren an deutschen Hochschulen mehr Menschen denn je. Deutschland geht es wirtschaftlich besser, viel besser als dem europäischen Durchschnitt. Der Uni-Psychologe Wilfried Schumann sagt, viele Studenten seien heutzutage viel grausamer gegen sich selbst, als das System zu ihnen sei.

Eine Rätselfrage: Warum sind wir nicht entspannter, wenn doch offenbar die Grundlage für unsere Angst verschwindet?

Ich glaube, es ist wie mit dem Terrorismus. Die Angst vor Terrorismus ist in diesem Land unverhältnismäßig groß im Vergleich zu der Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terroranschlags zu werden. Diese Angst ist irrational – aber es gibt sie. Sie ist real, solange es Menschen gibt, die an ihrer Verbreitung interessiert sind.

Meine persönliche Angst-Hitliste

Ich glaube, es gibt ebenso Institutionen und Verbände, die daran interessiert sind, die Angst an Universitäten aufrechtzuerhalten – die von ihr profitieren. Ängstliche Studenten sind ideal für den Arbeitsmarkt, weil sie kaum Ansprüche stellen. Um an einen Job zu kommen, akzeptieren sie befristete Verträge und machen unbezahlte Praktika und Überstunden. Sie sind zu jener Ausbeutung bereit, die sich unterhalb des Radars von Arbeitsmarktstatistik und Wachstumszahlen abspielt.

Weil Rankings im universitären Zusammenhang en vogue sind, habe ich eine Top 5 der Campus-Angstmacher aufgestellt.

  • Kostenlose Karrieremagazine wie „Unicum“ oder „Audimax“. Sie propagieren in hunderttausendfacher Auflage den unterwürfigen Super-Studenten und sind voll mit (nicht immer gut gekennzeichneten) Anzeigen großer Unternehmen. Früh übt sich: Beide Hefte haben auch Ableger für die Schule.
  • Bewerbungstrainings an Universitäten. Klar: Wer arbeiten will, muss wissen, wie man sich bewirbt. Dass man im ersten Semester aber darüber spricht, welche Socken man beim Vorstellungsgespräch anziehen sollte, hat mehr mit Sklavenerziehung zu tun als mit sinnvoller Vorbereitung aufs Leben.
  • Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Mit einem Millionenetat wirbt die Initiative für einen unternehmerfreundlichen Umbau von Arbeitsmarkt und Bildungswesen. Den Mindestlohn bezeichnet ein Vertreter der Initiative als Ausdruck eines „linken Zeitgeists“.
  • Kommilitonen. Manchmal sitzen die Panikmacher auch mitten unter uns. Hier gilt: mit entspannter Gegenrede kontern.
  • Das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE). Bekannt durch sein Hochschulranking. Das CHE setzt sich nach eigenen Angaben für ein „wandlungsfähiges Wissenschaftssystem“ ein. Kritiker werfen dem von der Bertelsmann-Stiftung finanzierten Centrum vor, neoliberale Hochschul-Reformen zu vertreten.

Ich gebe es zu: Mein Ranking ist subjektiv, unvollständig und methodisch fragwürdig. So ist das mit Rankings eben. Ich glaube: Wir sollten weniger Angst haben. Sie nützt nur den Angstmachern.

Danke Oliver für diese Überschrift:

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In ihrem Dorf in Mazedonien ist der Sommer noch Sommer und der Winter noch Winter.

Hitze und Schnee, das ist ihr Dorf.

In ihrem Dorf in Mazedonien ist die Familie so groß, dass sie gar nicht genau sagen können, wie groß sie ist: Mit allen Onkeln und Tanten, Geschwistern, Cousinen und Cousins, mit allen Kindern. 60, vielleicht 70? Sie müssten mal zählen.

Çhelopek, so heißt ihr Dorf in Mazedonien. „Tschellopek“, das C hat einen Haken im Albanischen, Abdulla Ramadani zeichnet ihn in die Luft. Abdulla Ramadani, 38, rot kariertes Hemd über weißem Unterhemd: ein bedächtiger Mann mit klugen Antworten, selbst wenn man ihn nach Offensichtlichem fragt, nach eigentlich Naheliegendem. Wenn man, beispielsweise, nach dem Wert der Großfamilie fragt.

Er sitzt in einer Erdgeschosswohnung in Hamburg-Farmsen, einem Stadtteil der roten Backsteinhäuser. In einer Stadt, in der die Sommer selten Sommer sind und die Winter selten Winter. In einem Land, in das sein Vater vor 40 Jahren einwanderte, um Arbeit zu finden und später die Familie nachzuholen. Erst war der Vater Bauarbeiter, dann kontrollierte er Maschinen in einer Schokoladenfabrik, Smarties- Abteilung. 30 Jahre lang, für das Geld, für die Familie, jetzt kann er Schokolade nicht mehr sehen.

Es ist eines der seltenen Wochenenden, an denen der HSV auswärts gewinnt, drei Tore gegen Freiburg durch drei Fehler des gegnerischen Torwarts: Einmal hat er über den Ball gegriffen, einmal ist er drüber gestolpert, einmal ist er drunter hinweggerutscht. An diesem Wochenende denkt Abdulla Ramadani an Fußball. Wenn Abdulla Ramadani an Fußball denkt, dann beginnt er über seinen Sohn nachzudenken: zentrales defensives Mittelfeld, ein guter Fußballer, SC Condor, Hamburg-Farmsen, für eine Zeit auch Kapitän, erfolgversprechend, wäre nicht die Pubertät gekommen, die Faulheit, die Lethargie.

Der Sohn sagt: Es waren die Verletzungen, die Schulter.

Der Vater sagt: Ich mache mir Sorgen um den Jungen.

Der Sohn sagt: Ich schicke Bewerbungen ab.

Ramadani sitzt auf einem Teppichboden, der gerade erst gesaugt wurde, mit dem Rücken lehnt er am Wohnzimmerschrank, Stickkunst an der Wand, schwere Gardinen vor den Fenstern.

Seine Familie sitzt um ihn herum, erste Generation, zweite Generation, dritte Generation: sein Sohn, der Fußballer, sein Vater, der Mann mit den Smarties, der aufrecht im Sessel sitzt und regelmäßig die Armbanduhr prüft, seine Mutter, Kopftuch, rote Wangen, seine Frau, zurückhaltend, die Frau seines Bruders, still, die Tochter seines Bruders, der Sohn seines Bruders, die zweite Tochter seines Bruders, seine Tochter, der zweite Sohn, der sich den Arm gebrochen hat, sein Bruder. Die Frauen zurückhaltender als die Männer.

Zwölf Menschen, die sich jedes Wochenende sehen und fast jeden Tag. Die Kinder rennen durch die Wohnung. Die Erwachsenen schauen Filme. Sie fahren bei gutem Wetter in den Heide-Park Soltau, zum Hamburger Dom, Autoscooter, Riesenrad, Fußball. Die Großmutter macht albanische Bohnensuppe, die Kinder wollen die Suppe nicht, sie wollen Nudeln.

Das Prinzip der Familie Ramadani heißt: Jeder hilft, wo Hilfe nötig ist. Jeder tut, was er kann.

Abdulla geht mit seinen Eltern auf die Ausländerbehörde, den Pass erneuern. Abdulla hilft seinem Vater bei der Suche nach einer guten Kfz-Versicherung, er füllt ihm die Formulare für die Krankenkasse aus. Sein Vater kann Deutsch, aber das Deutsch der Formulare ist ein anderes. Wenn sein Vater frühmorgens auf den Fischmarkt geht, bringt er Obst für die ganze Familie mit. Wenn einer der Brüder ein neues Auto kaufen will, leiht ihm der andere Bruder Geld. Wenn Winterreifen auf die Autos müssen, dann schrauben sie zu dritt. Und wenn eines der Kinder in Mathe Schwierigkeiten hat, dann fragen sie Zubejda, Abdullas Tochter, siebte Klasse, Gymnasium.

„Welchen Sinn hat das Leben ohne Familie?“, fragt Abdulla. Für ihn ist das eine rhetorische Frage. Und wenn es eine Antwort gibt, dann nur eine: keinen.

Was ist Familie? Die Familie schweigt: erste Generation, zweite Generation, dritte Generation. Sie sitzt im Wohnzimmer und schweigt. Vielleicht ist die Frage dumm.

Als fragte man: Warum dreht sich die Erde? Warum fließt Wasser bergab? Was ist Wetter?

Dann sagt Zelfi, der Fußballer, nach Auskunft des Vaters erst kürzlich der Pubertät entkommen, 17 Jahre alt, drei Streifen auf der Trainingsjacke, ein strahlender Mensch: Familie ist, wenn immer jemand da ist.

Dann sagt Abdulla, sein Vater: Wir schicken die Alten nicht in Heime. Das ist Familie. Abdulla sagt, dass sich auch sein Sohn am wohlsten in Çhelopek fühle, in ihrem Dorf in Mazedonien.

Deutschland, das ist das Land der kleinen Familien, der Scheidungen, der sinkenden Geburtenraten, der Singles, der Altenheime. Das Land, in dem Alleinstehende Lasagne in die Mikrowelle schieben, während Abdulla Ramadani mit zwölf Menschen in einem Raum sitzt, Verbindungen aus Blut und Liebe, jedes Wochenende, wie jetzt.

Deutschland, das ist auch das Land von Thilo Sarrazin, sagt Abdulla. Und er erzählt, wie seine Mutter, die Kopftuch trägt, an einer Hamburger U-Bahn-Station einmal einen Passanten nach dem Weg fragte. Und wie der Passant geantwortet habe: Mit dummen Menschen rede ich nicht.

Abdulla denkt über seinen Sohn nach: In Çhelopek kann er Traktor fahren. Fußball spielen. Nichts tun. Ihm geht es besser dort, denkt Abdulla. Irgendwann einmal sollten wir aufs Land ziehen, denkt Abdulla. Wo es große Häuser gibt für wenig Geld. Deutschland, das ist das Land von Frühjahr, Herbst und Winter. Mazedonien, das ist das Land des Sommers, das Land der großen Ferien: Dann fahren sie in Hamburg-Farmsen los, zwei Autos, zehn Personen, 2.200 Kilometer, Übernachtung in Linz bei einem Cousin, nicht weit von der Autobahn weg, dann weiterfahren, nach zwei Tagen Fahrt steigen sie in Çhelopek aus: Sie rollen die Läden hoch in ihrem Haus. Sie lüften durch. Im Juli und im August liegen die Durchschnittstemperaturen in Çhelopek bei 30 Grad. Neben ihrem Haus stehen vier weitere Häuser, sie gehören der Großfamilie, 5.000 Quadratmeter Land. Im Sommer sind sie 60, vielleicht 70 Personen. Sie grillen. Zelfi, der Fußballer, darf Traktor fahren. Mit seinem Smartphone macht er Bilder vom Haus.

Abdulla denkt weiter über seinen Sohn nach: Er soll eine Ausbildung machen, einen Job finden. Was ist mit einer Freundin? Erst die Ausbildung, der Job. Was ist mit Ausziehen, einer eigenen Wohnung? Erst die Ausbildung, der Job. Bei der Arbeit spricht Abdulla mit einem Kollegen. „Ich habe Probleme mit meinem Sohn“, sagt sein Kollege. „Die Probleme sind überall die gleichen“, sagt Abdulla.

An einem Montag sitzt Abdulla Ramadani auf seiner Couch in Hamburg-Farmsen, vor zehn Jahren ist er bei seinen Eltern ausgezogen, ein paar hundert Meter weiter ist er gezogen, weniger als eine Minute läuft er zum Haus der Eltern, in dem auch der Bruder mit seiner Familie lebt. Es ist der Tag, nachdem sich die Familie zu zwölft getroffen und darüber gesprochen hatte, wie es ist, eine Familie zu sein, eine so große. Der Tenor war: Es ist sehr gut, eine so große Familie zu sein. Es ist wie ein Kreislauf. Abdullas Eltern sind noch nicht pflegebedürftig, aber wenn sie es sind, dann will Abdulla helfen, selbstverständlich. Vielleicht sind die Eltern dann sechs Monate im Jahr bei ihm, sechs Monate bei seinem Bruder. Oder die Eltern entscheiden, bei wem sie leben wollen. Seine Frau bringt schwarzen Kaffee. Milch. Schokoladenkekse. Kitkat.

Der Kaffee schwappt in den Bechern, als sie ihn auf den Wohnzimmertisch stellt. Abdulla zeichnet ein Diagramm: seine Familie. Das Diagramm hat drei Ebenen, jede Ebene eine Generation. Abdulla reibt sich das Gesicht. Er hat kaum geschlafen, wie er selten gut schläft am Wochenanfang. Montags wechselt seine Schicht, von der Frühschicht zur Spätschicht, von der Spätschicht zur Nachtschicht, von der Nachtschicht zur Frühschicht. „Ich arbeite für die Familie“, sagt Abdulla. Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht. Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht. Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht. „Wofür arbeitet man, wenn nicht für die Familie?“, fragt Abdulla.

Abdulla muss mit den Schichten arbeiten, doch die Schichten arbeiten gegen ihn. Sie arbeiten gegen die Familie. Und sie arbeiten gegen seine Religion.

Er wischt über sein Smartphone, wenn er die Gebetszeiten nachschauen will: 6.20 Uhr, 12.11 Uhr, 14.30 Uhr, 17.04 Uhr, 18.35 Uhr. Wenn er bei der Arbeit ist, dann kann er nicht beten. Aber er bete, sooft es geht. Er klingt fast entschuldigend.

Seine Frau kann den Koran auf Arabisch lesen. Die Kinder lesen den Koran auf Arabisch. Er ist noch nicht so weit, aber er will bald so weit sein. Wieder klingt er fast entschuldigend. Der Koran lehnt im Wohnzimmerregal, neben dem Fernseher, aufgerichtet, von bunten Post-its durchzogen, jede Sure griffbereit.

Eine Sure besagt, dass man der Familie helfen muss.

Sein Sohn Isa kommt in den Raum, geboren 2007, er hat keine Schule, weil er krankgeschrieben ist, der linke Arm ist unter seinem Pullover an den Körper gebunden, zwei Drähte stecken im Knochen: Er pendelt vom Wohnzimmer zur Küche, von seiner Mutter zu seinem Vater, sein Vater legt Isa eine Hand auf den Kopf.

Abdulla denkt über Isa nach: Vielleicht sollte er anfangen, in einem Verein Fußball zu spielen.

Letzte Woche war Isa durch die Wohnung gerannt und so hingefallen, dass ein Knochen splitterte. Er musste operiert werden. Isa lag fünf Tage im Krankenhaus. Die Ärzte beschwerten sich, weil jeden Tag Isas Familie kam und kleine Geschenke brachte, das war den Ärzten zu viel: die Eltern, die Großeltern, die Tante, der Onkel, Cousinen, Cousins, die Geschwister.

Neben Isa lag ein Junge im selben Alter, ein deutscher Junge, sagt Abdulla. Der deutsche Junge habe nur einmal Besuch bekommen, von seiner Mutter. „Wo ist Papa?“, habe der deutsche Junge gefragt. „Wo ist Opa?“

Abdulla war es peinlich, wie viele Geschenke sie Isa brachten. Doch vor allem war es ihm peinlich, wie einsam der deutsche Junge war.

Das ist ein Armutszeugnis

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Viele Leser haben mir nach meiner letzten Uniloser-Kolumne geschrieben. Einige haben sich Gedanken gemacht, wie eine ehrliche Bewerbung aussehen könnte. Sehr lachen musste ich über ein Zertifikat, das Theresa aus Mannheim entworfen hat: Das Armutszeugnis – für das Ausbleiben herausragender Leistungen.

„Mit großem Desinteresse habe ich Ihre Stellenanzeige gelesen“

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Ich schließe eine Wette ab: In einigen Jahren wird man an deutschen Universitäten das Fach „Bewerbungswissenschaften“ studieren können.

In „Bewerbungswissenschaften“, einem interdisziplinären und international ausgerichteten Turbo-Studiengang mit vielen praktischen Übungen, wird es darum gehen, möglichst präzise die Wünsche der Arbeitgeber zu erforschen: Welches Lächeln ist erwünscht? Trägt man in Bewerbungsgesprächen besser weiße Blusen oder rote? Wie gibt man Arbeitgebern die Hand? Ist ein leichter Knicks zeitgemäß? Und: Soll ich meine Zähne bleichen lassen vor dem Bewerbungsgespräch?

Schon jetzt kommen Arbeitgeber an die Uni und lassen sich präventivLebensläufe und Bewerbungsschreiben zeigen. Ehemalige Personalmanager verdienen ihr Geld damit, dass sie als Ghostwriter anderen eine perfekte Bewerbungsmappe erstellen.

Bevor der Studiengang „Bewerbungswissenschaften“ kommt, will ich schnell in diese Branche einsteigen. Meine Geschäftsidee heißt: die ehrliche Bewerbung.

Ich werde Studenten beraten, wie sie Lebenslauf und Motivationsschreiben gestalten – ohne ein einziges Mal zu lügen. Ich will am Beispiel von Max Mümmelmann zeigen, wie eine ehrliche Bewerbung aussehen könnte. Max bewirbt sich bei der Unternehmensberatung McKinsey.

Wenn ich auch dir beim Schreiben einer ehrlichen Bewerbung helfen soll, dann mail mir bitte an coach@uniloser.de. Die ersten fünf Bewerber berate ich kostenlos. Ab Januar werde ich zusätzlich ganztägige Coaching-Seminare an Universitäten und Berufsakademien anbieten. Und so könnte Max‘ Bewerbung aussehen:

An
McKinsey & Company, Inc.
Straße des Ewigen Lächelns 12
80333 München

Betreff: Bewerbung als Unexperienced Professional (m/w)

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit großem Desinteresse, aber dem Wissen um meine ausweglose Situation habe ich Ihre Stellenanzeige in der Wochenzeitung „Die Zeit“ zur Kenntnis genommen. Die Möglichkeit, dass ich Sie schon bald im Rahmen von Design-to-Cost- und Design-to-Value-Projekten und bei der Konzeption innovativer Produktideen unterstütze, erschüttert mich zutiefst.

Ich verfüge weder über ein sicheres Auftreten, noch bin ich kontaktfreudig oder mobil. Die Vorstellung, bei McKinsey & Companyebenso selbständig wie auch als Teil eines jungen und motivierten Teams zu arbeiten, bereitet mir große Sorgen.

Wenn Sie fragen, ob ich Interesse habe, bei führenden Unternehmen die Entwicklung neuer Produkte im Spannungsfeld von technischen Möglichkeiten und wirtschaftlichem Erfolg mitzugestalten, dann antworte ich: Nichts könnte mich mehr langweilen als das.

Nur ist es so, dass ich Kredite abbezahlen muss, meine Freundin unbedingt mit mir auf die Seychellen will und mein Umfeld Dinge von mir verlangt, die ich kaum erfüllen kann. In Anbetracht dieser Lage beuge ich mich den Umständen und bitte Sie, mein Leben bei guter Bezahlung in Zukunft damit verbringen zu dürfen, Unternehmen zu zerlegen, Kosten zu minimieren und zwischendurch mit meinen Kollegen in der Kantine über die Seychellen zu reden. Im Anhang sende ich Ihnen einen tabellarischen Lebenslauf.

Mit freundlichen Grüßen,

Max Mümmelmann

 

Lebenslauf – Max Mümmelmann

1.) Allgemeines

  • 2005 Versuchter Ladendiebstahl (Nudeln und Kaugummis)
  • 2005 – 2006 Große Langweile
  • 2007 Pflanzen eines Baums
  • 2008 – 2009 Erneut große Langeweile
  • 2010 Teilnahme am Bundesliga-Gewinnspiel des „Kicker“
  • 2011 Versuchter Urlaub auf den Seychellen
  • 2012 – 2013 Der Baum geht kaputt

2.) Schwächen / Unfähigkeiten

  • Ich bin oft müde
  • Ich bin manchmal sehr still
  • Ich stehe Menschen skeptisch gegenüber
  • Oft verliere ich meine Zahnbürste
  • Ich verpasse meistens den Bus
  • Ich reise nur sehr ungern

3.) Probleme / Sorgen

  • Schulden
  • Schmerzen im Knie
  • Der Aufzug ist kaputt
  • Das Fahrrad ist kaputt
  • Man hänselt mich, weil ich Mümmelmann heiße