Ich will das nicht mehr sehen

Da ist das Bild des Lastwagens in meinem Kopf. Er fährt an der Promenade entlang, ganz langsam. Nizza, die Palmen. In der Dunkelheit nur zu erahnen: das Meer.

Dieser widersinnige Moment, in dem man von der Couch aus, in einer Situation vollkommener Sicherheit, das Grauen beobachtet. Zu fern, um eingreifen zu können. Zu nah, um nicht schockiert zu sein.

Der Abend begann damit, dass ich herumlag und gelangweilt durch meine Twitter-Timeline scrollte, neue Nachrichten vom Transfermarkt, Mario Götze zum BVB,Pokémon Go, schlechte Witze über Donald Trump, der ganze Quatsch, als plötzlich ein Bild vorbeischwamm: Da lehnt sich ein Mann an eine Palme, das Hemd aufgeknöpft, offenbar verletzt. Hashtag: Nizza.

Ich stand auf und machte den Fernseher an, nachtmagazin. Wie die Kamera des Reporters schwenkt und der Lastwagen schneller wird. Rennende Menschen. In meiner Twitter-Timeline rauschte ein Video vorbei, geteilt von der Chefredakteurin derBild, es lief automatisch an. Ein Mensch im Blut, seine verdrehten Beine. Die Straße voller Leichen.

Es war Mitternacht. Leuchtende Bildschirme. Die Stille meines Wohnzimmers. Diese Bilder. Ich hatte schon viele solcher Bilder gesehen, meistens saß ich auf meinem Sessel: Amokläufe, Terroranschläge, Massaker. Jetzt fragte ich mich zum ersten Mal: Warum schaue ich mir das an?

Bis zu diesem Abend war das für mich Alltag. Man informiert sich, was los ist. Und natürlich gehören Bilder dazu, auch drastische Bilder. Denn was stellt die Wirklichkeit direkter dar? Mein politisches Gedächtnis ähnelt mehr einem Fotoalbum als einem Buch.

Es beginnt an einem Dienstag im Herbst 2001. Ich war vierzehn. Wir saßen in unserem Dorf vor dem Fernseher, die seltsam stillen Eltern, mein Bruder, und starrten auf den Sekundenzeiger. Er nahm sich alle Zeit, Sekunde für Sekunde, jenem Moment entgegenzuschreiten, 19 Uhr, ZDF heute, in dem die Nachrichtenmelodie zum Crescendo anschwoll, sich die leuchtende Grafik auflöste, Ziffernblatt auf Weltkugel, und jenes Bild erschien, als öffnete sich ein Vorhang.

Die brennenden Zwillingstürme. Der stahlblaue Himmel. Feuerwehrautos im Staub. Menschen, die aus Fenstern springen. Wie sie kopfüber dem Asphalt entgegenfliegen. Was sie wohl denken, während sie fallen? Ich saß vor dem Fernseher, als dürfte ich, wenn ich das Geschehen begreifen wollte, kein Detail verpassen: das zurückgelassene Auto der Entführer, das Teppichmesser, der Kampf mit den Passagieren. Mit jeder neuen Sendung kamen neue Einzelheiten dazu.

Ich erlebte das Gefühl von Unmittelbarkeit: Ich sah die Nachricht im Moment ihres Entstehens. Was zwingt mich seit damals hinzusehen, wenn etwas Großes passiert? Ist es Voyeurismus? Lust am Schrecken? Oder Empathie? Wahrscheinlich ein bisschen von allem. Am stärksten war damals das Gefühl, mit der Welt eins zu sein, verbunden durch die Katastrophe.

Dabei waren die Bilder damals so viel langsamer als heute. Wie wir dort saßen und warten mussten, während die Nachrichtenredakteure entschieden, welche Bilder wir sehen sollten. Die Behäbigkeit des Sprechers, das Rascheln seiner Notizen. Ich erinnere mich an meine Ungeduld. Nachrichten, das hieß damals: ein Fenster zur Welt, das sich öffnete – und wieder schloss.

Ich aber wollte selbst entscheiden, was ich wann sah. Der technische Fortschritt half mir dabei: Das Internet wurde schneller und besser. YouTube ging an den Start. Da ist das Bild der Brüder Kouachi in meinem Kopf; die Mörder von Charlie Hebdo. Wie sie ihren Citroën in einer Pariser Straße parken, als sei das Routine. Ihre schwarze Montur, die Waffen im rechten Winkel vom Körper gestreckt. Der federnde Gang. Ihre Stimmen überschlagen sich vor Freude. » Nous avons vengé le prophète! Nous avons vengé le prophète! Nous avons vengé le prophète! « Ich guckte den ganzen Tag fern, sprang von ZDF zu Phoenix und von Phoenix zu NTV. Und als die Brüder tot waren, in einem Vorort erschossen, sah ich mir Augenzeugenvideos auf YouTube an.

Da sind die Bilder aus dem Bataclan. Der Schlagzeuger trommelt noch, da ist die erste Salve zu hören. Der Gitarrist spielt weiter. Das Video bricht ab. Ich lag wach bis zum Morgengrauen, griff zum Smartphone. Legte es weg. Schaltete den Fernseher ein. Und wieder aus.

Da ist das Bild des rauchenden Flughafens, Brüssel. Verwaiste Koffer, fliehende Menschen. Ich guckte Phoenix, drei Stunden am Stück, und umklammerte mein iPhone.

Am 11. September waren es noch Kameramänner und ein paar Hobbyfilmer, die ihre Kamera nach oben rissen, als sie das ohrenbetäubende Grollen der Triebwerke hörten. Inzwischen hat sich der Reflex des Draufhaltens demokratisiert. Man zückt das Smartphone, wenn es knallt. Als habe jeder Einzelne eine Reporterpflicht gegenüber der Welt. Was denkt ein Mensch, der Verletzte filmt, statt ihnen zu helfen? Und was fühle ich, wenn ich mir das anschaue?

Vielleicht will er, unverhofft ins Chaos geraten, seiner unfreiwilligen Zeugenschaft einen Sinn verleihen. Er wechselt in jenem Moment, in dem er sein Smartphone zückt, von der Passivität des Beobachters zur Aktivität des Chronisten. Er, der Produzent, steht zwischen Leichentüchern und Blut. Ich, der Konsument, sitze im Wohnzimmer.

Uns verbindet die Hoffnung, das Grauen sei mit Bildern zu zähmen. Als könne eine Gemeinschaft des Hinsehens weiteres Unheil abwenden. Unsere Vorstellung vom Bösen ist traditionell mit der Dunkelheit verknüpft. Mit den düsteren, unbeobachteten Ecken. Mit der Nacht. Wir glauben, das Grauenhafte sei zu vertreiben mit Wachsamkeit. Terroristen greifen uns aber nicht an, weil wir weggucken. Sie greifen uns an, weil wir hinsehen. Unser Reflex, die Tat zu filmen und zu verbreiten, ist Teil ihres Plans. Terror ist ein Akt des Exhibitionismus.

Manchmal tippe ich das Datum bei YouTube ein: 11. September 2001. Dann sehe ich noch mal, wie sich das Flugzeug neigt. Noch mal, wie der Krater im Hochhaus klafft und raucht, als habe ein wütender Riese seine Faust in die Fassade gerammt. Die brennenden Türme. Das Flugzeug.

Ich packe die Bilder an, immer wieder, von allen Seiten, wie eine kaputte Umzugskiste. Ich bekomme sie nicht zu greifen. Aber ich werde sie auch nicht los.

Da sind Bilder tanzender Menschen, mein Alter ungefähr. Ihre Fröhlichkeit. Eine Demonstration in Ankara, 10. Oktober 2015. Sie halten sich an den Händen. Dann ein Knall, schwarzer Rauch, eine Feuersäule. Zerfetzte Fahnen, abgedeckte Körper. Ich sah die Bilder auf YouTube. Spulte zurück. Hörte noch mal den Knall, sah den aufsteigenden Rauch. Ich fragte meinen Vater, er ist Arzt, wie die jungen Menschen wohl gestorben seien, wie schmerzvoll und wie schnell.

Während wir am 11. September, in einer Zeit vor Smartphones, Twitter, Facebook, YouTube, Periscope, noch bewusst zur Fernbedienung greifen mussten, um am Geschehen teilzuhaben, schwimmen wir jetzt durchgängig im Nachrichtenstrom. Es gibt kein Fenster mehr, das sich öffnet und wieder schließt. Alles fließt: die Twitter-Timeline, die Facebook-Timeline, der Periscope-Livestream, selbst startende YouTube-Videos. Die Bilder des Grauens schwimmen warnungslos vorbei wie eine Wasserleiche.

Ich dachte, ich hätte Kontrolle über die Bilder. Dank Internet und digitaler Revolution. In Wahrheit aber haben die Bilder längst Kontrolle über mich. Ich träume von ihnen. Sie tauchen auf, wenn ich einen weißen Lastwagen sehe. Oder eine schwarze Fahne. Ich will nicht mehr.

Beim nächsten Anschlag – möge er nicht kommen – werde ich, wenn es irgendwie geht, mein Smartphone ausschalten und spazieren gehen. Welchen Sinn soll es haben, dass ich diese Bilder in meinen Kopf lasse, von enthaupteten, gesprengten und überfahrenen Menschen?

Es gibt Leute, die fordern, wir müssten hinsehen. Manche von ihnen sitzen in Boulevardredaktionen. Sie sagen: Verschließt nicht die Augen! Doch bloße Augenzeugenschaft hilft niemandem. Und Entsetzen behindert manchmal das Verstehen.

Früher erreichte uns die Nachricht vor dem Bild. Inzwischen hat das Bild die Nachricht abgehängt: Uns erreichen brutale Sequenzen, die wir zu entschlüsseln haben. Immer mehr und immer schneller. Jeder für sich. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass es früher besser war. Damals, als sich Ulrich Wickert erst sortieren musste, bevor es losging. Als der Gong der Tagesthemen ertönte. Da gab es auch schlimme Bilder. Aber der Wahnsinn war eingehegt. Und am Ende kam immer das Wetter.

Vielleicht ist es Zeit für die Wiederentdeckung eines alten Gefühls. Wir haben uns im Laufe des menschlichen Fortschritts, aus guten Gründen, von ihm entfernt: der Scham. Sie könnte uns in Zeiten der Terrorbilder, der schonungslosen Unmittelbarkeit, Sensibilität verleihen für die Frage, wann wir hinschauen dürfen. Und wann wir besser wegschauen. Wenn wir der Grausamkeit begegnen, dann ist es in Ordnung, mal den Blick zu senken. Wir sind schließlich beschämt. Beschämt über das, was wir Menschen uns antun. Wegschauen – auch das ist Mitgefühl.

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