Ist 2016 das historischte Jahr aller Zeiten?

Ein Wort geht um in diesem Land. Es breitet sich immer schneller aus. In Redaktionen, in Parlamenten, in Festsälen und Mehrzweckhallen. Das Wort heißt: »historisch«. Sehr viel ist inzwischen historisch.

Abkommen sind historisch, Wahlergebnisse sind historisch, Staatsbesuche sind historisch, Gerichtsurteile sind historisch, Referenden sind historisch, ein Händedruck zwischen Präsidenten ist historisch. Große Ereignisse sind historisch. Da war in diesem Jahr recht viel: die Wahl von Donald Trump, der Brexit, der Tod von David Bowie, von Fidel Castro, von Muhammad Ali, von Prince.

Aber es ist zum Beispiel auch historisch für die »jüngste Reutlinger Eishockey-Geschichte« (Südwestpresse), wenn die TSG Blackeagles Reutlingen ein 3 : 5 in ein 10 : 5 wendet. Es ist historisch, dass die FDP die Oberbürgermeisterwahl in Landshut gewinnt (Süddeutsche Zeitung). Es ist historisch, wenn Reinhold Messner auf dem Südtiroler Kronplatz-Gipfel in den Dolomiten ein Bergmuseum einweiht (Bunte). Und es ist historisch, wenn sich die Kultusminister der Bundesländer auf ein Förderprogramm für besonders begabte Schüler einigen (ZEIT).

Und wie nennt man eine Zeit, die so reich an historischen Ereignissen ist? Richtig: Auch sie ist historisch. Man spricht von historischen Tagen und Wochen – der Begriff lässt sich nach Bedarf weiten wie ein Haargummi.

Es ist zum Beispiel ein historischer Tag für Finnland, wenn Staatspräsident Sauli Niinistö das Nato-Hauptquartier in Brüssel besucht (Welt am Sonntag). Oder es ist ein historischer Tag, »den auch Fit for Fun- Leserin Vanessa nie vergessen wird!«, wenn beim Ironman auf Hawaii drei deutsche Athleten auf dem Siegertreppchen stehen (Fit for Fun). Und es ist ein historischer Tag für Schottland, Großbritannien und Europa, wenn Schottland in einem Referendum gegen seine Unabhängigkeit stimmt(Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung).

Auch wenn »historisch« gerade in diesem Jahr so richtig durchstartet: Dieses Wort ist nicht nur ein Phänomen der Gegenwart. Schon die letzten Jahre waren ziemlich historisch. Und auch die Zukunft wird historisch werden. »2011 war für die drei großen Raumfahrtnationen USA, Russland und China ein historisches Jahr«(Süddeutsche Zeitung). »›2014 ist ein historisches Jahr für Lettland‹, sagte Noch-Ministerpräsident Valdis Dombrovskis, als er wenige Minuten nach dem Jahreswechsel den ersten Euro-Schein aus einem Bankautomaten in der Innenstadt von Riga zog«(Berliner Zeitung). »Sollte 2015 wieder ein historisches Jahr für die Lebenswissenschaft werden, so beginnt es doch mit Stochern im Nebel« (ZEIT).»Gerade in diesem Jahr, in dem wir den 25. Jahrestag der deutschen Einheit feiern werden, sollten wir nicht übersehen, dass 1990 auch für Namibia ein historisches Jahr war« (ZEIT). Und: »2021 könnte also ein historisches Jahr werden, an das man sich noch lange erinnern wird« (Süddeutsche Zeitung).

Aber nicht nur Ereignisse und Zeiten sind historisch, sondern auch – ja, was denn eigentlich? Alles.

Im Tagesspiegel stand neulich, »die allgemeine Lage« sei historisch. »Nicht nur wegen Brexit, AfD und Trump, wegen Krieg und Terror, sondern auch weil die Gesellschaft spürt: Alles verändert sich.« Aber hat sich nicht immer alles verändert? Wäre es nicht umgekehrt meldenswert, wenn sich plötzlich mal nichts mehr veränderte? Wären das nicht breaking news: wenn der Fortlauf der Dinge zum Erliegen käme und die Zeit stehen bliebe?

Mit Worten ist es wie mit Geld: Je mehr man sie in Umlauf bringt, desto schneller verlieren sie an Wert. Das Wort »historisch« erlebt gegenwärtig so eine Inflation. Was ist der nächste Schritt? Bleibt wohl nur der Komparativ: historischere Zeiten. Und der Superlativ: historischste Zeiten.

»Historisch«, das war mal ein nützliches Wort. Es bedeutete so etwas wie »lange her, aber folgenreich«. Sparsam gebraucht, half es dabei, Vergangenes zu gewichten. Seitdem wurde es beinah ins Gegenteil verkehrt: zu einer Vokabel des Ultra-Präsentischen. Zu einem Wort, das zur fuchtelnden Live-Beschreibung herhalten muss von beinah allem, was gerade – Jetzt! In diesem! Moment! – vor unseren Augen geschieht. Egal ob Reaktorkatastrophe oder Tennisspiel. Ist das vielleicht der Versuch, unser Erleben zu überhöhen, unsere Existenz aufzuwerten? Denn: Wer will schon in langweiligen Zeiten gelebt haben? Wir machen nervös Selfies. Im Hintergrund sehen Sie: die lodernde Zeitgeschichte. Im Vordergrund sehen Sie: mich!

Aber, alte Bauernregel: Kochendes Wasser lässt sich nicht einfrieren. Wir können die Gegenwart nicht in Geschichte verwandeln, solange sie noch passiert. Und das ist auch besser so: Denn Gegenwart lässt sich verändern, die Geschichte nicht.

Ob wir in besonders historischen Zeiten leben – oder in besonders hysterischen: Das wird allein die Zukunft entscheiden, das werden wir im Rückblick verstehen.

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